03.03.2021

Assistenzhunde, Türenknallen und Glücksmomente

Wenn Homeoffice auf Homeschooling trifft

Katja Kipping

In Interviews musste ich in diesen Zeiten so manches Mal auf die Frage antworten, wie ich es mit dem Thema Schulöffnungen halte. Ich muss gestehen, bei dem Thema schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Aus Infektionsschutzgründen ist die Öffnung der Schulen riskant. Andererseits verschärft Homeschooling die bestehenden sozialen Unterschiede. Für Kinder, die beengt wohnen, deren Eltern sie nicht so unterstützen können, die kein oder nicht genügend Zugang zum Internet haben, bedeutet Homeschooling oft, dass sie beim Lernen zurückfallen. Was Schulschließungen für Kinder bedeuten, bei denen es zu häuslicher Gewalt kommt, vermag man sich kaum vorzustellen. Das Thema Rückkehr zum Regelunterricht ist aber nicht nur politisch zweischneidig, sondern auch ganz persönlich ist das so eine Sache mit der Beschulung in den eigenen vier Wänden.

Wie sieht ein normaler Arbeitstag als Politikerin so aus? Diese Frage bekomme ich von Besuchergruppen im Bundestag immer wieder gestellt. Leichte Frage, und doch so schwer zu beantworten, denn ich kenne kaum normale Arbeitstage. Jeder Tag stellt andere Anforderungen, gerne auch spontane. Corona und die Schulschließung haben die Lage nicht gerade übersichtlicher gemacht – und dabei bin ich noch in einer zu tiefst privilegierten Situation: ohne Geldsorgen, nur ein Kind und der Beruf meines Mannes findet zur Zeit ebenfalls im Homeoffice statt, so dass wir uns in die Betreuung des Schulkindes teilen können. Heute bin ich dran. Während meine Tochter noch schlafen darf, sitze ich um sieben Uhr am Laptop. Auf diese erste Arbeitsstunde habe ich die Arbeit gelegt, die besondere Konzentration erfordert: einen Artikel zum 150. Geburtstag Rosa Luxemburg überarbeiten.

Zwischen Sachkunde und tierischer Assistenz

Die Zeit von 8 bis 9 Uhr ist komplett für die Anleitung des Fernunterrichts reserviert. Wir starten mit „Sachkunde“ und dem Planetensystem. Zwischen den schwierigen Wissensaufgaben gibt es immer mal wieder Ausmalaufgaben. Ich zügele meine Ungeduld und schlage der Tochter vor, jetzt, wo ich ungeteilte Aufmerksamkeit für sie habe, lieber die schwereren Aufgaben in Angriff zu nehmen. Zwischendurch gibt es parallele Bewegung auf meinem Handy. Die Pressestelle bittet um die Freigabe einer Pressemitteilung zum Thema Sperrung von Accounts bei Twitter.

Kurz vor neun Uhr klingelt der Wecker, der mich an den Beginn meiner ersten eigenen Videokonferenz erinnert. Während meine Tochter selbstständig mit Mathe beginnt, berate ich sozialpolitische Anträge. Darunter einen zu tierischer Assistenz für Menschen mit Behinderung. Ich erfahre dabei noch einiges über Blindenhunde, bekomme gute Laune und verkneife den Impuls meine Tochter zu unterbrechen um ihr davon zu erzählen, wann Blindenhunde in den Ruhestand müssen. Sie soll sich jetzt schließlich auf ihre Aufgaben konzentrieren. Später am Abend werde ich ihr davon erzählen, dass viele für ihre Blindenhunde, wenn sie ins Rentenalter kommen, eine neue Heimat suchen. Der Hund unseres blinden Fraktionsmitarbeiters kam zum Beispiel zu einer  Familie mit Kindern und Pferden auf einen Bauernhof. O-Ton: „Er hatte dort noch viel Spaß im hohen Hundealter.“

Zum Glück endet diese Konferenz fünf Minuten eher als gedacht. Für diese  Minuten habe ich viel vor: Mir Kaffee nachschenken, das Kind ans Wassertrinken erinnern, kurz ihre bisher gelösten Aufgaben korrigieren und dann ab in die nächste Videokonferenz. Das Netz streikt und ich komme einige Minuten zu spät. Das ist auch so eine Sache im Homeoffice. Es kommt vor, dass wir alle drei gleichzeitig in einer Videokonferenz sind. Dann kann man nur auf gute Internetverbindung hoffen. Ganz zu schweigen davon, dass inzwischen jedes Familienmitglied ein eigenes elektronisches Endgerät braucht. Wie sollen das Familien mit niedrigen Löhnen bezahlen?

Knallende Türen und Glücksmomente

Eine Weile läuft alles gut, jeder macht seine Aufgaben, dann gibt es Ärger an der Mathefront. Ich wende mich gedanklich meiner Tochter zu und helfe ihr den richtigen Zugang für die Berechnungen zu finden. Gleich ist ein Tagesordnungspunkt dran, bei dem ich mich melden will, ich werde ungeduldig und merke wie sich meine Stimmung auf sie überträgt. Keine gute Dynamik. Kurz knallt eine Tür. Zum Glück hab ich mich stumm geschaltet, so dass das niemand in der Konferenz mitbekommt. Nach wenigen Minuten ist das Gewitter bei ihr vorbei und wir nehmen die Aufgaben erneut in Angriff.

Es ist inzwischen 11 Uhr, Zeit für den Mathe-Skype mit der Oma. Was für ein Glück, dass beide Omas mal Lehrerinnen waren und gut mit der neuen Technik umgehen können, so kann ich mich für die nächsten 90 Minuten ganz der weiteren Videokonferenz des Arbeitskreises widmen, wo u.a. das wichtige Thema „Situation pflegender Angehöriger“ aufgerufen wird.

Wie so oft in der Sitzungswoche kommt die Meldung zu einer weiteren Aktuellen Stunde rein. Soll ich dafür einen Redewunsch anmelden? Ich schiebe die Frage beiseite, denn nun ist erstmal Mittagszeit. Zum Glück hatten wir am Sonntag einen Eintopf vorgekocht, also besteht die Vorbereitung des Mittagsessens (das kommt ja auch nicht alleine auf den Tisch) nur in wenigen Handgriffen. Bei ärmeren Haushalten kommt noch eine weitere Sorge hinzu, wenn das kostenfreie Mittagsessen in der Schule ausfällt, fallen Mehrausgaben fürs Essen zu Hause an. So werden knappe Budgets noch knapper.

Halb eins sitzt die Familie am Mittagstisch. Im Kopf ordne ich meine To-Do-Liste (Und wieder denke ich an die wunderbaren Not-To-Do-Listen aus den Känguru-Chroniken). Während ich Minuten hin und her schiebe, ist meine Tochter in anderen zeitlichen Sphären. Schließlich ging es bei den Planeten heute Vormittag um Milliarden Jahre. „Was denkt ihr, wie lange werdet ihr leben?“ fragt sie uns. Mein Mann und ich schauen uns an und erkennen jeweils die Rührung in den Augen des anderen. Angesichts dieser existentiellen Frage, schiebe ich die To-Do-Liste eine Weile beiseite, nehme sie in den Arm und genieße den Glücksmoment. In solchen Momenten oder wenn wir zusammen ein Referat über den Mond erarbeiten bin ich dankbar dafür auch diese Erfahrungen, dafür auch einmal solche Stunden mit meiner Tochter zusammen erleben zu können. Homeoffice – das bedeutet auch emotionale Achterbahnfahrt von Gereiztheit zu tiefem Glück und wieder zurück zum dominanten Gefühl von Stress.

Dann heißt es zurück zum ganz normalen Wahnsinn von Homeoffice und Homeschooling. Meine Tochter beschäftigt sich mit Verben und ich versuche bis zur nächsten Konferenz um 14 Uhr alle angelaufenen Mails abzuarbeiten. Und ich komme nicht umhin, mich zu fragen: Wie um alles in der Welt managen das Eltern mit mehreren Kindern, Eltern ohne Technik affine Großeltern oder gar Alleinerziehende?