25.03.2021

Folgt Zahnlosigkeit auf Zahlenlosigkeit?

Sozialpolitik im Grünen Wahlprogrammentwurf

Katja Kipping

Seit längerem werbe ich dafür, dass die Kräfte links der Union stärker darüber sprechen, was sie gemeinsam im Sinne der so dringenden sozial-ökologischen Wende durchsetzen können. Bisher wird schließlich oft nur über das Trennende geredet. Insofern war ich neugierig auf den Wahlprogrammentwurf der Grünen. Und in der Tat finden sich mehre Reformalternativen wie Kindergrundsicherung, höherer Mindestlohn, Sanktionsfreiheit, die wir links der Union zusammen durchsetzen könnten. Doch eins ist wirklich auffällig: das Fehlen von konkreten Zahlen, wenn es um soziale Leistungen geht. Sowohl bei der Kindergrundsicherung als auch in der Passage zu den Hartz-IV-Regelbedarfen fehlen verbindliche Summen. Zu der Mindestsicherung, die Hartz IV ersetzen soll, heißt es im Grünen Wahlprogramm: „Dafür wollen wir die Regelsätze schrittweise anheben, sodass sie das soziokulturelle Existenzminimum verlässlich sicherstellen.“ (S. 61)

Kraftvoll zubeißen oder Höhenflug mit Landung als Haustier?

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sie während sie diese Schritte gehen, der Plural ist hier besonders wichtig, die Unterschreitung des soziokulturellen Existenzminimums in Kauf nehmen würden. Verlässlicher Einsatz für den garantierten Schutz vor Armut sieht anders aus.

Dabei hat die Grünen-Bundestagsfraktion aus eigenen Berechnungen abgeleitet, dass die Regelbedarfe bei mindestens 600 Euro liegen müssten und fordert dies. Das Wahlprogramm fällt also eindeutig hinter die Politik zurück, welche die Grünen derzeit in der Opposition machen.

Das ist wohl ein Vorgeschmack darauf, was passiert, wenn es zu Schwarz-Grün kommen sollte. Dann wird von dem sozialen Einsatz jetzt wohl eher unverbindliche Lyrik übrigbleiben. Dann droht die jetzige Zahlenlosigkeit zur sozialpolitischen Zahnlosigkeit zu werden.

Die gute Nachricht ist: Das sozialpolitische Programm der Grünen ist in seiner rhetorischen Anmutung schon so angelegt, dass es mit der richtigen Koalitionspartnerin auch Schutz vor Armut zulässt. Im Klartext, nur in einem Mitte-Links-Bündnis werden die Grünen das, was jetzt in ihrem Programm sympathisch, aber leider unverbindlich und zahlenlos anklingt, auch umsetzen.