selbstverständlichkeiten

Thesen der Redaktion zu progressiver Hegemonie

1. Die Linke will Gesellschaft grundlegend verändern.

(Sozialdemokratischer Reformismus und putschistische Revolutionsnostalgie haben sich dafür historisch als nicht tragfähig erwiesen.) Deswegen arbeiten wir auf eine progressive Hegemonie hin. Eine solche Zielperspektive ist voraussetzungsvoll:

„Hegemonie“ bezeichnet einen Herrschaftstyp, der sich bis in die kulturellen Praxen erstreckt. Demzufolge bedarf „progressive Hegemonie“ einer alternativen, gesellschaftlichen Konsensbildung. Linke Politik kann sich also nicht in staatlicher Institutionenpolitik erschöpfen. Nur wenn zunächst Fortschritte im „Alltagsverstand“ erzielt werden und damit auch in den auf den ersten Blick „unpolitischen“ Selbstverständlichkeiten und den kulturellen Ausdrucks- und Lebensformen, kann eine progressive Hegemonie greifen. Es ist z.B. ein Unterschied, ob die übergroße Mehrheit dem Ellenbogenprinzip unhinterfragt huldigt oder solidarische Prinzipien populär sind. Einer hegemoniepolitischen Orientierung geht es um eine „moralische und intellektuelle Reform“, welche das „gesamte System intellektueller und moralischer Verhältnisse“ in einer Gesellschaft verändert*¹ Sie beschränkt sich nicht auf Tagespolitik, da das, was „tagespolitisch“ durchsetzungsfähig ist, seine Berechtigung aus den bestehenden, „unpolitisch“ daherkommenden Selbstverständlichkeiten zieht. Deshalb sind neue Selbstverständlichkeiten nötig, um einer anderen Politik den Weg zu ebnen.

2. Für linke Parteien mit einer hegemoniepolitischen

Ausrichtung bedeutet das: Ihre Aufgaben gehen weder in einem vereinsmeierischen Wahlverein noch in einer Mobilisierungsagentur für politische Großereignisse und Demonstrationen auf. So wichtig Stimmenmaximierung und gelungene Großereignisse sein mögen — es muss immer wieder gefragt werden, ob den wahlpolitischen Erfolgen und Massenmobilisierungen reale hegemoniepolitische Fortschritte in den Kräfteverhältnissen entsprechen. Zu einem Programm „moralischer und intellektueller Reform“ gehören genauso die Mühen der Ebene, politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit und intensive Auseinandersetzung mit der herrschenden Weltauffassung. Politische Organismen müssten selbst Träger progressiver Ideen und einer alternativen „Weltauffassung“ sein, die sie aktiv ins Gespräch bringen. Damit fordern sie auch die Adressaten ihrer Politik — die Subalternen — heraus und regen zum Umdenken, zur Selbstveränderung an.

3. Die von der LINKEN praktizierte Strategievariante, gesellschaftliche

Mehrheitspositionen zu behaupten, die sie ins politische System einspeist (und die SPD vor sich her treibt), ist kluge Tagespolitik. Eine hegemoniepolitische Orientierung geht darüber hinaus: DIE LINKE braucht ein eigenständiges Programm und ein gesellschaftlich-kulturelles Umfeld, das vermeintliche Mehrheitspositionen, dort wo es nötig ist, von links herausfordert, um eine progressive Hegemonie voranzubringen. Beim Blick auf unterschiedliche Politikfelder und die aktuell dominanten Bewusstseinsformen erübrigt sicht dann auch die Volkstümelei. Sicherlich sind einzelne politische Reformforderungen der LINKEN, wie der Mindestlohn und der Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan, aktuell mehrheitsfähig, doch gibt es beispielsweise gegenwärtig weder gesellschaftliche Mehrheiten für einen umfassenderen wirtschaftsdemokratischen Umstieg noch für eine humane Flüchtlingspolitik oder eine offensive Strategie gegen den Rechtsextremismus. Auf der Ebene übergeordneter Wertorientierungen wachsen autoritäre und demokratiefeindliche Gesinnungen in beträchtlichem Maße an. Hier muss DIE LINKE bereit dazu sein, eine gegenhegemoniale Politik in Gang zu setzen und die politische Provokation zu suchen.

4. Aus einer hegemoniepolitischen Orientierung folgt eine Veränderung im Selbstverständnis der Parteipolitik.

Zwar sind ihre elektoralen und politischen Kernfunktionen nicht wegzureden, entscheidend ist jedoch genauso, ob sie und ihre Mitgliedschaft eine Sensibilität dafür entwickelt, dass ihre Möglichkeitsspielräume gerade außerhalb der staatlichen Institutionenpolitik bestimmt werden: Ob in den Kinos Filme wie „Sommer vorm Balkon“ oder „Netto“, die sich mit sozialer Polarisierung beschäftigen, massenhaft konsumiert werden, ist für ihre Anliegen eventuell wichtiger, als der Wettbewerb darum, welche innerparteiliche Strömung am fleißigsten UnterzeichnerInnen sammelt. Deshalb ist auch eine ständige, unvoreingenommene Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen und im Selbstverständnis des politischen Personals ein Interesse für Trends jenseits der Parteipolitik nötig.

5. In der politischen Praxis gilt es genauso „Sensibilität“ auszubilden, vor allem für das Unausgesprochene, das stillschweigend vorausgesetzt wird.

Politische Arbeit muss den kulturellen Horizont der AdressatInnen mitdenken. Schon die Frage, wo Parteisitzungen stattfinden, ob es eine Spelunke, ein Bürgerhaus oder eine private Wohnung ist, ob es sich bei der Spelunke um eine Männerkneipe handelt oder ein Lesbencafé, ob die Preise im Bürgerhaus für die Getränke von Menschen mit geringem Einkommen zu finanzieren sind, macht die jeweilige politische Veranstaltung mehr oder weniger zugänglich. Wer sich nur in typischen Männerkneipen trifft, soll sich über geringe Partizipation von Frauen nicht wundern. Die Form der politischen Arbeit trägt selbst zur Konstitution eines gesellschaftlich-kulturellen Umfeldes bei. Die Auseinandersetzung um die zivilgesellschaftliche Präsenz der LINKEN steht noch am Anfang. Erforderlich ist politisches Leben auch jenseits von Wahlkämpfen. Mit dem Konzept der offenen Büros ist es beispielsweise gelungen, offene Anlaufstellen und Treffpunkte für zivilgesellschaftliche und kulturelle Initiativen zu schaffen. Ladenlokale wie das linxxnet in Leipzig, der politikkontor in Zwickau oder die WIR-AG in Dresden dienen weit über die Parteiarbeit hinaus als kulturelle Zentren und vermitteln in Form und Inhalt das, worum es uns allen gehen sollte: eine progressive Hegemonie und einen zivilgesellschaftlichen Sozialismus.

*¹ Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Kritische

Gesamtausgabe, hg. v. Klaus Borchmann/

Wolfgang-Fritz Haug (Hamburg 1991 ff.), Heft

13, § 1: 1540.