geschichte ist etwas unerbittliches

Daniela Dahn über das Einmischen damals und heute

Daniela Dahn

Im Frühjahr 1968 stand ich kurz vor dem Abitur. Es war in West und Ost eine politisch aufgela-dene Zeit, was uns Schülern natürlich nicht verborgen blieb. Am 2. Juni 1967 war in Westberlin bei einer Anti-Schah-Demonstration der Student Benno Ohnesorg erschossen worden. Der Viet-namkrieg erregte die Gemüter und im April 1968 wurde Martin Luther King ermordet. Warum sich die Studentenbewegung ausgerechnet auf Mao berief, verstanden wir nicht.
In der DDR erprobte Ulbricht seit 1963 eine Liberalisierung der Wirtschaft. Die Veröffentlichung zum Neuen Ökonomischen System (NÖS) enthielt einen wohlwollenden Kommentar von Ota ¦ik, dem späteren Protagonisten der Wirtschaftsreform des Prager Frühlings. Kritische Filme und Bücher ließen auch auf kulturellem Gebiet auf eine Öffnung hoffen. Für uns Jugendliche brachte die Neugründung des Senders DT 64 ungewohnt frische Töne, ähnlich wirkte die Studentenzei-tung „Forum“ und die Heft-Reihe „Saison für Lyrik“.
Doch nach dem Sturz von Chrustschow 1964 begann sich der Wind wieder zu drehen. Das 11. Plenum der SED machte 1965 klar, dass die Spielräume der Kunst wieder auf dogmatisches Maß gestutzt wurden. Breschnew ging auf Ulbrichts Initiative, das NÖS auch im RGW (im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) einzuführen, nicht ein. Eine Verbindung von Plan und Markt und mehr Selbständigkeit der Betriebe hätte einen Machtverlust der Zentrale bedeutet, ein Abrutschen in die Marktwirtschaft hielten einige nicht für ausgeschlossen. Umso überraschender dann die hoffnungsvollen Signale aus Prag, die einsetzten, nachdem Alexander Dubček im Januar Gene-ralsekretär der KPČ geworden war. Worum es dabei genau ging, erfuhr man allerdings nur aus den Westmedien.
Die Aussicht auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ euphorisierte nicht nur mich. Wir waren acht Schüler, die aus einer Tapetenrolle eine überdimensionale Wandzeitung fertigten, mit Zitaten von Alexander Dubček, Ota ¦ik, Roger Garaudy, Enrico Berlinguer und Antonio Gramsci. Außerdem von Ernst Fischer, Mitglied des ZK der Kommunistischen Partei Öster-reichs, der als Renegat galt, was wir in unserer Naivität gar nicht wussten: „Wir brauchen eine Opposition in der Partei.“ Wir schrieben unsere Namen darunter und riefen zur Diskussion auf.
Während einer Unterrichtsstunde hingen zwei unserer Jungs die Wandzeitung heimlich auf, in der nächsten Pause stand eine riesige Traube von Schülern davor. Dann lies der Direktor sie ab-fetzen. Ein Kesseltreiben gegen uns begann, Vorladung vor den Bezirksschulrat, Sperrung vom Abitur. Wir bereiteten uns nicht mehr vor. Drei Tage vor Prüfungsbeginn fanden sich unsere Namen dann plötzlich doch in den ausgehängten Terminlisten. Schikane oder Freundlichkeit? Ich sollte in fünf Fächern antreten, der höchstmöglichen Zahl an Prüfungen. Dann geschah wieder etwas Unerwartetes – drei Lehrer, Genossen und Nichtgenossen, verrieten mir heimlich das Prü-fungsthema. Alle inkriminierten Schüler machten, vermutlich zum Ärger der Direktion, ein auf-fallend gutes Abitur. Mir blieb im Prager Frühling die Erfahrung, dass unerwünschte Einmi-schung zwar viel Nerven kostet, man aber auch Verbündete findet. Und das gute Gefühl, zu sei-ner Meinung gestanden zu haben. Der Einmarsch in unsere Illusionen im August war dann schmerzlich genug.
Dreißig Jahre später war es mir vergönnt, den damals 85jährigen Eduard Goldstücker kennen zu lernen. Was für eine Biografie: 1913 in der Slowakei geboren, Funktionär der kommunistischen Studentenbewegung, 1939 ins englische Exil, die Mutter in Auschwitz umgekommen, nach dem Krieg Diplomat, 1951 verhaftet und zu lebenslänglicher Haft verurteilt, 1955 rehabilitiert, danach Professor für Germanistik an der Karlsuniversität, wo er 1963 die Kafka-Konferenz einberuft, 1968 Vorsitzender des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes und geistiger Vater des Pra-ger Frühlings, Abgeordneter der Nationalversammlung, ab 1969 zweites Exil in England, 1974 Entzug der tschechischen Staatsbürgerschaft, seit der Wende wieder in Prag lebend.
Als Held gefeiert, wie mein ihn verehrendes Gemüt selbstverständlich vermutet? Weit gefehlt. „Der Prager Frühling war zwischen 1945 und 1989 der einzige lichte Moment im Schicksal mei-nes Volkes", meinte der akzentfrei Deutsch sprechende Goldstücker. „Aber die neue Herrschaft Tschechiens diskreditiert diesen Demokratieversuch und deformiert das Gedächtnis an ihn. Schon der damalige Parteiapparat teilte sich in Befürworter und Gegner. Aber der eigentliche Prozess der Aufklärung kam vorwiegend von den Reformkommunisten der Partei und den mit ihnen sympathisierenden Intellektuellen. Schritte zur Veränderung konnten nur aus dem Zentrum der Macht kommen. Unter Dubček verabschiedete die Partei im April 68 ein Aktionsprogramm, das weitgehend mit den Forderungen der intellektuellen Opposition übereinstimmte: Das System des Diktates sollte in ein Partizipationssytem umgewandelt werden. Das heißt, es wurde anerkannt, dass es verschiedene Interessen gibt und diese vertreten werden müssen. Die Kontrolle der Macht sollte hauptsächlich durch die Abschaffung der Zensur und durch freie Gewerkschaften garantiert werden. Auch die Ökonomie sollte demokratisiert werden, durch eine stärkere Marktorientierung und Selbstverwaltung der volkseigenen Betriebe."
Der Versuch kam zu spät, um seine Rolle noch spielen zu können. Doch auch eine missglückte Befreiung bringt den Geschmack der Freiheit und ändert die Gesellschaft. Die tschechischen 68er waren bahnbrechend für ein neues gesellschaftliches Selbstbewusstseins. Sie sind die legitimen Vorgänger der samtenen Revolutionäre von 1989. „Aber Befreier bekennen sich ungern zu ihren Vorgängern. Sie geben sich lieber als direkte Abgesandte der Vorsehung", sagte Goldstücker. Heute sei es für viele schwer, sich der Vereinnahmung zu entziehen, nach der alles zu diskrimi-nieren ist, was mit Kommunisten zusammenhing. „Und der Prager Frühling war nun mal das Werk von Reformkommunisten. Heute sieht man in den damaligen Protagonisten gern die wah-ren Verursacher des folgenden Elends. Nach dem Ende des Kommunismus geht es um neue He-gemonien, die Antikommunismus voraussetzen." Deshalb gäbe es nur noch wenige, die sich wohlwollend an ihn wenden würden.
„Die nichts riskiert haben, wollen nicht daran erinnert werden, dass sie nichts riskiert haben. Die Charta 77 trug 1800 Unterschriften. Was haben die anderen 15 Millionen gemacht? Viele geben sich heute unter den Bedingungen der Konkurrenz als Träger des Widerstandes gegen das frühere System und verbreiten Feindseeligkeit gegenüber allen, die tatsächlich den Mut hatten, schon vorher die Faust zu zeigen. Es gibt unter den Tschechen eine tief sitzende Scham darüber, dass sie sich so schnell mit der Niederlage abgefunden haben."
Goldstücker zitierte Togliatti, der Ende der 30er Jahre auf einer Tagung der Kommunistischen Internationale zu Ernst Fischer gesagt hat: „Kampf um Sozialismus heißt Kampf um mehr Demokratie. Wenn wir Kommunisten uns nicht als die konsequentesten Demokraten bewähren, geht die Geschichte an uns vorbei." Das ist geschehen.
Geschichte ist etwas Unerbittliches. Wenn sie allerdings so weiterläuft wie zur Zeit, ist zu be-fürchten, dass sich vor ihr auch die westliche Demokratie nicht mehr bewährt. Damit sich besagte Geschichte dann nicht wieder Diktatoren zuwendet, sondern womöglich erstmalig tatsächlich einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wird man sich weiter einmischen müssen. Erbitten reicht eben nicht.