Mitgelaufen – Mitgewonnen

1968 in der BRD

Matthias Kreck

Biographien werden wesentlich von Zufällen bestimmt. Ein solcher war, dass ich 1966, also in der Zeit, in der die Studentenbewegung anfing, mein Studium begonnen habe. Damit fiel mein Studium in eine Zeit, die von einer wachen Atmosphäre geprägt war, der sich kaum einer entziehen konnte. Auch ich nicht. Wenn ich heute vor Studierenden von jener Zeit berichte, geht es letztlich immer um zwei Fragen: Was hat die 68er Studentenbewegung erreicht? Was hat sie bei mir selbst verändert? Zur ersten Frage nur ein paar Stichworte: Ein Stück weit ist der Muff nicht nur unter den Talaren weggeblasen worden. Eine Kultur des "sich Wehrens", die Deutschland so dringend braucht, entstand gemäß dem Motto „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!“ Schwierige, aber für beide Seiten fruchtbare Kontakte zwischen Gewerkschaften und Intellektuellen entstanden.
Und bei mir selbst? Ich gehörte zu denen, die mitgerissen wurden und die mitliefen. Ich kann mich keiner großen Aktion rühmen. Einmal wurde ich verhaftet. In Reaktion auf die Verschleppung kritischer Studierender, besetzten wir die koreanische Botschaft. Doch meine Verhaftung war eher ein Zufall und führte noch nicht mal zu einem Verfahren, da die Bundesregierung eine generelle Amnestie verkündet hat (sozusagen als Zuckerbrot – die Peitsche waren die Berufsverbote). Und dass ich die einzige Hauptstudiumsvorlesung in meinem Nebenfach Betriebswirtschaftslehre an der FU Berlin durch aktive Teilnahme am Boykottkollektiv komplett verhindern half, kann man wohl eher als Eigeninteresse interpretieren.
Für mich persönlich war die Teilnahme an in irgendwelchen Kellerräumen durchgeführten Lesezirkeln von Marx' "Kapital" besonders prägend. Einen so überzeugenden wissenschaftlichen Text habe ich außerhalb der Mathematik nie wieder gelesen. Bei der Theorie blieb es aber nicht. Ja, ich hatte Kontakte zu Arbeitern. Wenn wir uns beispielsweise morgens um fünf Uhr vor ein Werkstor quälten, um die "arbeitenden Massen" aufzuklären, war ich dabei. Wir wurden mit einer Mischung aus Unverständnis, Neugierde und Ablehnung betrachtet. Kaum einer hat mit uns gesprochen, und wenn, dann haben wir meist aneinander vorbeigeredet. Einen Arbeiter, er nannte sich Mäck, habe ich näher kennen gelernt. Er arbeitete in einem Chemiewerk in Schichtarbeit. Wenn er Tagesschicht hatte, haben wir manche Nacht durchdiskutiert, durchgesoffen und am Ende nach einem kleinen Joint Mozarts „Don Giovanni“ gehört. Heute würde ich dazu sagen: Ganz großes Tennis.
Noch mal zurück zum Muff. Noch 1972 haben meine Freunde und ich es in Bonn nicht geschafft, eine Wohnung für eine Wohngemeinschaft zu finden. Das abgrundtiefe Misstrauen der Vermieter war durch nichts zu überwinden: „Eine Wohngemeinschaft? Um Gottes willen, da finden ja ständig Orgien statt!“ Ironisch haben wir dann vom Neid der „Besitzlosen“ gesprochen. (Heute hingegen werben einige Vermieter geradezu mit der WG-Tauglichkeit ihrer Wohnung. Auch solche Veränderungen gehören womöglich zur Bilanz der 68er-Bewegung.)
Mich persönlich hat die 68er Zeit auf jeden Fall sehr geprägt und ich bin dankbar, dass ich sie erleben durfte. Ohne sie wäre mein späteres politisches Engagement, besonders in der Friedensbewegung, wahrscheinlich anders verlaufen, ganz zu Schweigen von der Veränderung meiner Persönlichkeit. Ich bin davon überzeugt, dass früher oder später eine ähnliche Bewegung kommt. Es gibt noch viel Muff, – nicht nur unter den Talaren - den es wegzublasen gilt. Dieser Muff und die politischen Probleme, besonders der Sozialabbau, legen ein Aufbegehren nahe!