ein fensterchen hoffnung

Kafka Rezeptionen im Umfeld des Prager Frühlings

Susanne Götze

Kafkas Werke gehören zu den undurchdringlichsten, ja surrealsten Motiven der Weltliteratur, darunter groteske, unheimliche Fabeln wie die des Landvermessers Herr K. Gerade diese haben dazu beigetragen, dass ihr Autor zum „geistigen Verdun des Ost-West-Konflikts“ und schließlich sogar „zur Initialzündung des Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wurde, wie der Germanist und Prager Reformer Eduard Goldstücker später bilanzierte.
Für die Realsozialisten war Kafka nicht erst seit Georg Lukacs berühmtem Aufsatz „Thomas Mann oder Franz Kafka“ im Zuge der Formalismuskampagnen der 40er und 50er Jahre ein rotes Tuch. In seinem Essay versucht der ungarische Literaturwissenschaftler nachzuweisen, dass ein avantgardistischer Autor wie Kafka den Sozialismus nicht voranbringe, sondern im Gegenteil durch das „Zerstückeln des Wesentlichen“, kontraproduktiv wirke. Die erste und zugleich letzte Konferenz zu seinen Ehren 1963 - im Jahr von Kafkas 80. Geburtstag – in Liblice bei Prag wirkt aus heutiger Perspektive wie die Vorahnung eines Zeitfensters der Freiheit und Liberalisierung. Fünf Jahre später sollte sich dieses für einige Monate öffnen.
Auf dieser Konferenz sprachen sich tschechische Wissenschaftler und westliche Vertreter leidenschaftlich für eine zwingende Aktualität von Kafkas Schaffen aus. Die Gäste aus der DDR machten hingegen klar, dass sie keinerlei Sinn darin sahen, einen bürgerlichen Autor auferstehen zu lassen. Die DDR-Germanisten Werner Mittenzwei, Paul Reimann, sowie der Kafkaexperte Klaus Hermsdorf betonten beharrlich, dass Kafka die Kapitulation und die unüberwindbare Entfremdung des Menschen verkörpere, und somit „nichts mehr zur Entwicklung des Sozialismus beitragen“ könne.
Doch den Prager Reformsozialisten und -sozialistinnen ging es eben nicht um Kapitulation: Sie nahmen mit Bedacht auf Kafka Bezug, um ihre Kritik am herrschenden Realsozialismus zu formulieren. Schon Jean Paul Sartre erklärte 1962, Kafka sei ein Symbol dafür, was die kapitalistische und die sozialistische Welt trenne und verbinde. Das Entscheidende sei, dass sich die Menschen aus der Machtlosigkeit und Einsamkeit, die die Literatur beschreibe, befreien. In diesem Sinne wies auch Eduard Goldstücker darauf hin, dass die in Kafkas Werken beschriebene Entfremdung keinesfalls auf kapitalistische Gesellschaften beschränkt sei, sondern im Gegenteil sogar „in Zeiten des Übergangs zum Sozialismus“ noch viel intensiver sein könne. Dies war ein mehr als eindeutiger Wink mit dem Zaunspfahl. Kafka führe seine Leser und Leserinnen zwar bis an die Grenze des Nihilismus, öffne aber gleichzeitig – laut Goldstücker - ein „Fensterchen der Hoffnung“. Der österreichische Schriftsteller und Kommunist Ernst Fischer brachte diese Erkenntnis auf die Formel: „Kafka bedeutet den Kampf gegen Dogmatismus und Bürokratismus und gleichzeitig den Kampf für soziale Demokratie, Initiative und Verantwortung“.
Gleich einem Spiegelbild der Prager (Vor-)Frühlingsgefühle zeigen diese Stimmen, dass die Reformkräfte Kafka nicht als Argument gegen den Sozialismus, sondern für „einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verwandt haben. Dass sie mit dieser Reformidee scheiterten, lag wohl weniger an ihren hehren Zielen als an schlichten Machtfragen. Quasi über Nacht wurden diese mit der kafkaesk anmutenden Präsenz sowjetischer Panzer in Prag sichtbar. Die unsichtbare Falle der Macht war zugeschnappt.