die wiederentdeckung der langsamkeit

Über Milan Kunderas Buch Die Langsamkeit und den Entschleunigungsdiskurs

Katja Kipping

Entschleunigung – die Rechtschreibprüfung meines Laptops erkennt diesen Begriff immer noch nicht. In alternativen Kreisen hingegen ist dieses Thema spätestens durch das Buch „Entschleunigung – Abschied vom Turbokapitalismus“ von Fritz Reheis bestens bekannt. In unserer schnelllebigen Zeit ist jedoch auch dieses Thema nicht davor gefeit, in Vergessenheit zu geraten. Doch diese Debatte ist alles andere als inaktuell. Denn: inzwischen hat die gesellschaftliche Beschleunigung ein Ausmaß angenommen, welches für die Demokratie zum Problem wird. Erreicht der gesellschaftliche Wandel ein bestimmtes Tempo, überfordert er die demokratische Willensbildung. Jede Entscheidungsfindung jenseits von Hinterzimmerzirkeln braucht Zeit. Die Organisation von kollektiven Interessen erfordert ebenfalls Zeit. Und je differenzierter eine Gesellschaft wird, umso mehr Zeit ist dafür erforderlich. Ein demokratisches Gemeinwesen funktioniert nun mal anders als ein Ferrari.
Insofern ist es Zeit für ein Revival des Entschleunigungs-Diskurses. Allerdings ist Moralisierung hier fehl am Platz. Natürlich lässt sich wunderbar über Drive-Thru-Funerals, also Beerdigungen im Durchfahrts-Stil, polemisieren. Spätestens im Bereich der Kommunikationsmittel sucht jedoch auch der größte Verlangsamungsfan Zuflucht bei Adornos berühmtem Ausspruch, es gäbe kein richtiges Leben im falschen. Wer verzichtet schon freiwillig auf einen DSL-Anschluss zu Gunsten eines ISDN-Anschlusses, den Entschleuniger unter den Internetanschlüssen. Sind wir also alle Beschleunigungserkrankte?
Die Ambivalenz der eigenen Praxis belegt nur, dass der gesellschaftliche Wandel die Menschen zwingt, ihr eigenes Lebenstempo zu erhöhen. Die Ambivalenz unserer Praxis widerlegt jedoch nicht die Notwendigkeit von gesellschaftlicher Entschleunigung. Es ist also an der Zeit den Entschleunigungs-Diskurs wieder aufzugreifen. In aller Ruhe, aber mit allem Nachdruck. Politisch bedeutet ein solches Revival u.a. für Arbeitszeitverkürzung zu kämpfen. Und dabei anzuknüpfen an der Idee von einer „Politik der befreiten Zeit“. Im Sinne von André Gorz soll diese dazu einladen sich ein anderes Leben vorzustellen, wo weniger arbeiten gleichbedeutend wird mit neu leben und anders arbeiten.
Für unsere alltägliche Praxis kann das Revival der Langsamkeit Lust auf Muße machen. Muße, um zu Büchern zu greifen - zum Beispiel zu Milan Kunderas Buch „Die Langsamkeit“.
In diesem Roman führt uns der Erzähler in ein Hotel, in welchem ein Ehepaar einen gemütlichen Abend verbringen will, während gleichzeitig ein Symposium über Insekten stattfindet. Die verschiedenen Gespräche und Handlungen werden zu einem bunten Cocktail gemischt, dem noch eine Brise Lächerlichkeit und eine Brise Erläuterungen zum Hedonismus beigefügt werden. Peinlichkeiten, zu denen die Eitelkeit die Pariser Schickeria treibt, werden in typisch Kunderascher Manier bloßgestellt. Auch im Liebesleben ist nicht der Augenblick entscheidend, sondern Leistung. Der Autor kann seinen Figuren also Frustration und Impotenz nicht ersparen. Doch es kommt zu temporalen Diskontinuitäten. Die Ereignisse dieser Nacht überlappen sich mit den Ereignissen einer erotischen Rokoko-Novelle, in welcher ein Edelmann eine ganze Nacht mit einer Comtesse verbringt. Eine Nacht wie eine Reise in drei Etappen: Spaziergang im Park, Liebe im Pavillon sowie in einem geheimnisvollen Gemach. Ein gelungener Kontrast zur Hektik des anderen Handlungsstranges und eine Ode auf den langsamen und gründlichen Genuss. Kurzum dieses Buch verspricht Lesegenuss und macht Lust auf die Wiederentdeckung der Langsamkeit.