editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

wir sind gewarnt worden. Der Titel dieses Magazins sei „mutig“, führe zu falschen Zuordnungen, wecke unterschwellig Abwehr und Antipathie. Zugegeben: prager frühling ist nicht nur ein meteorologischer Verweis auf den Erscheinungsmonat Mai. prager frühling ist unser Verweis auf einen überfälligen Perspektivenwechsel — ökonomisch, demokratisch wie kulturell. Als im Jahr 1968 viele BürgerInnen der damaligen ČSSR, darunter auch viele erklärte KommunistInnen, versuchten, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen, war der real existierende Sozialismus bereits — heute wissen wir das — gescheitert: in ökonomischer, humanistischer und politischdemokratischer Hinsicht, nicht zuletzt intellektuell und kulturell. Aus der Krise des Poststalinismus entstand eine vielfältige und lebendige linke Diskussion; im Osten wie in der Linken Westeuropas. Ihr Maßstab: Sozialismus mit Freiheit und Demokratie tatsächlich vereint, und zugleich eine kulturelle Befreiung. Der Prager Frühling markierte also den Bruch mit den archaischen Sozialismusvarianten der Arbeiterschließfächer mit angeschlossener Kleingartensparte und jahrelanger Wartezeit auf den Trabbi. Es war zugleich der Bruch mit einer paternalistischen Sozialismuskonzeption, die das Ziel der Umwerfung aller Unterdrückungsverhältnisse aufgegeben und statt dessen auf gedankliche Uniformen und kulturelle Rangabzeichen gesetzt hatte.

Wir, die Redaktion des prager frühling — und nicht nur wir — stehen auch heute für diesen Bruch. Die Linke in der BRD hat in den letzten drei Jahren enorm viel erreicht. Die endgültige Marginalisierung aller Gedanken, die nicht dem Markt, dem Recht des Stärkeren und der Natur der Ungleichheit ewige Gültigkeit zusprechen, konnte vorläufig abgewendet werden. Doch Zeit zum gemütlichen Einrichten wird und soll es nicht geben. Was jetzt ansteht ist eine Neubegründung linker Politik. Sie braucht mehr als eine organisatorische Zusammenführung und rechnerische Mehrheiten in Parlamenten. Notwendig ist ein gemeinsames Projekt der gesellschaftlichen Linken, um auf Hegemonieverhältnisse Einfluss zu nehmen. In prager frühling soll deshalb kritische Theorie und Praxis zu Wort kommen. Jede Wahrheit ist gezwungen, den radikalen Widerspruch aktiv auszuhalten, und jede Selbstverständlichkeit die radikale Kritik: Deshalb ist mit prager frühling Stalinismus, bornierter Avantgardismus und Strickjäckchenspießertum nicht zu machen. Als sozialistisches Magazin wollen wir ein Quentchen dazu beitragen, dass Sozialismus wieder in den Köpfen und Herzen der Menschen mit Frühlingsblumen statt mit dem Aschgrau der WBS70-Wohnblockreihen oder den machtlosen Ritualen längst vergangener Zeiten verknüpft wird. Statt phraseologischer Überlegenheit linker Politik setzen wir auf ökonomische, demokratische und kulturelle Überlegenheit. Wir wünschen die Ablösung des staubtrockenen Parteichinesisch durch tausend blühende Blumen- und Partykulturen herbei. Wir haben uns mit prager frühling also viel vorgenommen. Ihr seid jetzt ebenfalls gewarnt.

Eure Redaktion