im verein freier menschen ist demokratie am schönsten

Über den Fetischcharakter der Demokratie

Thomas Lohmeier

„Keynes für Anfänger. Ein Crashkurs“. Eine ganze Seite widmet die Sonntags-FAZ vom 4.1.09 im Wirtschaftsteil, eigentlich stets neoliberale Orientierungshilfe, John Maynard Keynes. ÖkonomInnen würden, so die FAS, wieder sein „uraltes Buch“ mit dem Titel „The General Theory of Employment, Interest and Money“ aus ihren Regalen kramen. Auch die Politik übertrifft sich in Vorschlägen, wie die Konjunktur anzukurbeln sei. Staatliche Konjunkturprogramme, vor wenigen Monaten noch Teufelszeug Ewiggestriger, sind heute nur für wenige gläubige AnhängerInnen des Neoliberalismus ein Problem. Was ist geschehen?

Verkehrte Welt?

Wir wissen: Nicht einmal die Wahl Obamas bewirkte den Sinneswandel. Wenn, dann war es umgekehrt. Die Finanzkrise führte zum Sinneswandel der Öffentlichkeit und seiner Wahl. Aber ist das nicht eine verkehrte Welt, in der die Insolvenz einer Investmentbank einen Paradigmenwechsel der Wirtschaftspolitik herbeiführt, während demokratische Wahlen in den letzten zwanzig Jahren nur zu Varianten neoliberaler Politik führten? Es ist tatsächlich eine verkehrte Welt. In dieser Welt erfahren die Menschen die Gesellschaftlichkeit ihres Produktionszusammenhangs als sachliche Verhältnisse. Ihre Arbeitsprodukte verwandeln sich in Waren, sobald sie zum Zwecke des Austausches zu Markte getragen werden. Dort scheinen sie zu anderen Waren in Beziehung treten zu können. So, wie die Dinge Gebrauchseigenschaften haben, haben sie auch einen Preis, der ihr Verhältnis zueinander bestimmt. Fällt der Preis einer Ware, scheint sie sich verändert zu haben. Der Markt wird zum sozialen Ort der Waren, wo sich diese nach geheimnisvollen Regeln tauschen. Die Menschen hingegen begegnen sich dort in sachlichen Rollen: KäuferInnen und VerkäuferInnen.

Die Regeln des Marktes entwickeln dabei ein eigenes Leben. Als Bewegungsgesetze der kapitalistischen Ökonomie werden sie zum Subjekt gesellschaftlicher Entwicklung, während die Menschen zu Objekten ihrer eigenen ökonomischen Verkehrsformen degenerieren. Nichts zeigt die Relevanz dieses von Marx im Kapitel über den „Fetischcharakter der Ware“ im Kapital geäußerten Gedankens eindrücklicher als die gegenwärtige Finanzkrise, die die Menschen seit einigen Monaten wie eine Naturkatastrophe heimsucht, und der sie
vergleichbar einem Tsunami machtlos ausgesetzt sind. Kramen wir also nach diesem Textabschnitt im „Kapital“, um für die Verkehrung der Welt eine Erklärung zu finden, um den schönen Schein der bürgerlichen Demokratie zu verstehen, und um schließlich die Prämissen einer Demokratie fassen zu können, in der die Menschen selbst die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen.

Verkehrte Menschen?

Die Verkehrung der Welt in den Köpfen entsteht, weil sich ihre Gesellschaftlichkeit erst im Austauschprozess ihrer Privatarbeiten zeigt und in diesem Prozess versachlicht wird. Der Mensch selbst wird zum Homo oeconomicus, Egoismus zu einer anthropologischen Konstante. Die Zuschreibung, dass der Mensch Egoist sei, beruht dabei auf realer Erfahrung und ist nicht nur Ideologie. Aber es sind die Verkehrsformen der kapitalistischen Ökonomie, die den Menschen wirklich werden lassen, wie ihn die Volkswirtschaftslehre voraussetzt. Vor allem aber wird der Kapitalismus nicht mehr in seiner Genese und Vergänglichkeit, sondern nur als unabänderlicher Naturzustand begriffen. Ihre gesellschaftlichen Formen besitzen für die Menschen, so Marx, bereits die „Festigkeit von Naturformen“. Sie reflektieren nicht mehr über den „historischen Charakter dieser Formen“, sondern nur noch über ihren „Gehalt“. Anders ausgedrückt: Die Menschen versuchen, sich den Sinn und das Funktionieren der gesellschaftlichen Formation zu erklären,
deren prinzipielle Veränderbarkeit sie aber nicht wahrnehmen. Die „Marktwirtschaft“ wird als eine der menschlichen Natur entsprechende Wirtschaftsform erlebt und angepriesen. Andere Formen des Wirtschaftens werden als unvereinbar mit dem menschlichen Wesen, als bloße Utopie verworfen.

Liest man den „Fetischcharakter der Ware“ unter demokratietheoretischen Aspekten, entdeckt man zudem auch einen Fetisch der bürgerlichen Demokratie. Obwohl die Menschen im Wahlakt als Souverän erscheinen, sind die zur Wahl stehenden Alternativen begrenzt — und zwar auf die Form des gesellschaftlichen Lebens,
die ihnen als Naturform und deshalb unabänderlich erscheint. So wie auf dem Markt begegnen sich die Menschen auch im Wahllokal als Gleiche. Doch obwohl jede Stimme gleich gilt, legitimieren sie letztlich eine Gesellschaft der sozialen Ungleichheit, die aufgrund der Wandlung von ökonomischer in politische Macht auch eine der politischen Ungleichheit ist.

Verkehrte Produktionsform

Um die Verkehrung der bürgerlichen Gesellschaft zu verdeutlichen, kontrastiert Marx sie mit einem Verein freier Menschen, in dem die Menschen „mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben“. Diesen Verein grenzt Marx von allen traditionellen Formen gemeinschaftlicher Produktion, wie zum Beispiel der patriarchalen Bauernfamilie, ab. Die Entscheidung, wie dieser Verein produziert und seine Erträge verteilt, soll aber nicht irgendwie getroffen werden: Marx spricht von einer selbstbewussten Entscheidung. Selbstbewusste Entscheidungen eines Vereins freier Menschen über Inhalt, Form und Verteilung ihrer Arbeit und Erträge sind nur als demokratischer Entscheidungsprozess denkbar, weil diese nicht zweckrational zu bestimmen sind. Nur die Möglichkeit zur Partizipation kann die Einzelnen in diesem Verein zu Freien werden lassen.Die Analogie des Vereins freier Menschen muss daher als ein Marxsches Plädoyer für radikale Demokratie interpretiert werden.
Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie umfasst mehr als Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Letztlich geht es darum, die Bedingungen aufzuzeigen, in denen Menschen wieder zu Subjekten ihrer eigenen gesellschaftlichen und ökonomischen Verkehrsformen werden. Damit benennt Marx im Kapitel über den Fetischcharakter der Waren nicht weniger als die Grundvoraussetzung der Demokratie.

Zitate: MEW, Bd. 23, S. 89ff