es gibt kein außen mehr

Klare Kante für Eurosozialismus

Katja Kipping und Kolja Möller

Ende der 1960er Jahre forderte der belgische Marxist und Gründer der IV. Internationalen,
Ernest Mandel, dass die europäische Linke der „internationalen Kapitalverflechtung (...) die Alternative eines sozialistisch vereinten Europas“ gegenüberstellen müsse. „Rückfall in Kleinstaaterei“ jedenfalls sei — so Mandel — keine sinnvolle Antwort auf die Internationalisierung der Produktionsverhältnisse.*¹ Doch sein Plädoyer bleibt ungehört. Bis heute begegnen Linkstraditionalisten unterschiedlicher Couleur den zugegebenermaßen
ungünstigen Kräfteverhältnissen in der EU mit dem romantisierenden Blick auf die nationalstaatlichen Verfassungskompromisse der Nachkriegszeit. Problemlagen der deutschen Hochromantik — „Entwurzelungsgefahren“ und „Heimatliebe“ — stellen dann die Klaviatur bereit, auf der die Euro-Skeptiker ihre ideologische Begleitmusik zusammenstellen. Mandel hätte all dies zu Recht als gnadenlos unmarxistisch kritisiert. Für ihn war vielmehr folgende Frage von Interesse: Wie sieht eine progressive Antwort auf die Internationalisierung der Produktionsverhältnisse aus? Sein Fazit: Die Linke muss sich selbstbewusst auf das transnationale Terrain begeben und transnationale Streiks und Aktionen auf den Weg bringen.

Mandel steht nicht allein. Auch der französische Sozialdemokrat Jean-Jacques Servan-Schreiber und der Vordenker der alternativen Linken, André Gorz, plädieren schon Ende der 1960er Jahre dafür, die strategische Orientierung der Linken an den kapitalistischen Realitäten auszurichten. Der moderate Servan-Schreiber sieht Spielräume für eine europaweite Programmierung der Wirtschaft und eine vertiefte politische Integration, um die Abhängigkeit der europäischen Märkte vom US-Kapitalismus zu mildern.*² Gorz hingegen stellt die „Strategie der europäischen Arbeiterbewegung“ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft produziert neue Widersprüche, der sich eine „europäisierte“ Gewerkschaftsbewegung annehmen müsse.*³

Heute wäre man froh, wenn die europapolitische Diskussion der Linken den analytischen Tiefgang und den visionären Überschuss von Sozialdemokraten wie Servan-Schreiber, von alternativen Linken wie Gorz sowie von Marxisten wie Mandel hätte. Nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um das Europawahlprogramm der Linkspartei im Jahr 2008 zeigen, dass man sich immer noch sehr schwer damit tut, die Methode „nationaler Tellerrand“ zu überwinden. Die Motivationen dafür reichen von der inneren Überzeugung, dass die LINKE das Thema „Nation“ für sich besetzen müsse, bis zum wahltaktischen Opportunismus gegenüber einer vermuteten Anti-EU-Stimmung in der deutschen Bevölkerung. Die neoliberale Ausrichtung der EU-Integration sowie die Politik der Kommission sind nüchtern zu analysieren. Eine hinreichende Antwort auf die Frage, wie linke Politik auf den globalisierten Kapitalismus reagieren soll, ist allerdings nicht durch larmoyantes Klagen über die Neoliberalen dieser Welt aufzuspüren. Vielmehr braucht es „klare Kante“: Welche strategischen Schlussfolgerungen sind aus der Internationalisierung der Produktionsverhältnisse zu ziehen? Hier wachsen zarte Pflänzchen. Kürzlich haben zwei Gewerkschafter aus Baden-Württemberg, Bernd Riexinger und Werner Sauerborn, in einem Diskussionspapier darauf aufmerksam gemacht, dass sich eine nationalstaaatsfixierte Wirtschaftspolitik in eine strategische Sackgasse manövriert. Der „Nationalkeynesianismus“ ignoriere, „dass sich inzwischen supranationale Strukturen und Regulationen entwickelt haben, die neue Machtzentren bilden“.*⁴

Gerade der Widerstand gegen die aktuelle Rezession könne nur „grenzüberschreitend“ organisiert werden. In eine ähnliche Richtung weisen die Diskussionen innerhalb der außerparlamentarischen Linken um das Thema „Globale Soziale Rechte“. NGOs, Graswurzelbewegungen und Gewerkschaften versuchen sich daran, gemeinsame Ansatzpunkte dafür zu finden, wie demokratische und soziale Rechte im transnationalen Maßstab verankert werden können.*⁵ Die Nationalkeynesianer halten dagegen: Alles Spinnifax, die Musik der EU-Politik wird nicht in Brüssel, sondern in den Nationalstaaten gemacht und der Alltagsverstand der Bevölkerung ist mit so viel Europa auf einmal überfordert. Sie übersehen, dass es nicht nur um die jeweilige politische Ebene geht, sondern auch darum, wie politische Forderungen in einen Zusammenhang gebracht werden. Es wäre nämlich auch möglich, politische Forderungen, die sich auf einen Politikwechsel im Nationalstaat richten, als Einstieg in einen europaweiten Politikwechsel zu thematisieren: Geht es in der Steuerpolitik einzig um die Einführung einer nationalen Vermögenssteuer oder darum, mit einer Vermögenssteuer in eine andere, europaweite Steuerpolitik einzusteigen? Ist das Zukunftsinvestitionsprogramm der LINKEN Teil einer europaweiten Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge oder dient es einzig der Produktion deutscher Spritschleudern?

Im Übrigen sollte man den Alltagsverstand nicht leichtfertig unterschätzen. Für viele ist Europa bereits heute eine unmittelbare Kooperationserfahrung — sei es am Arbeitsplatz, im Urlaub, über den schulischen Austausch, in Internet-Portalen oder bei Europäischen Sozialforen. Eine offensive, euro-optimistische Strategie der Linken ist nicht nur eine adäquate Antwort auf die kapitalistischen Realitäten, sie findet auch Anknüpfungspunkte
im Alltagsverstand — womöglich gerade bei denjenigen, die eine europäische Linke erreichen muss, wenn sie die Kräfteverhältnisse nachhaltig verändern will.

Zitate:
*¹ Ernest Mandel, Die EWG und Konkurrenz Europa-Amerika, Frankfurt Köln 1968, 99.
*² Jean-Jacques Servan-Schreiber, amerikanische Herausforderung, Hamburg
*³ André Gorz, Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus, Main 1967.
*⁴ Der Beitrag ist in der Rubrik unter www.prager-fruehling-magazin. veröffentlicht.
*⁵ siehe dazu z.B. das Internet-globale-soziale-rechte.de.