die unvollendete

Thesen der Redaktion zu Demokratie und Herrschaft

Redaktion prager frühling

1.Die Linke hat sich seit ihrem Entstehen für Demokratie eingesetzt. Das Ziel dabei war kurzfristig, die Wehrhaftigkeit der Beherrschten zu verbessern. Perspektivisch ging es um eine Gesellschaft, in der alle frei und gleich ihre Interessen artikulieren können, um auf dieser Basis eine gesellschaftliche Selbststeuerung zu erreichen. Deshalb stellt die bürgerliche Demokratie eine Errungenschaft dar: Wahlrecht, Gewaltenteilung, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit sind Essentials linker Politik.

2. Emanzipatorische Kämpfe sind daran orientiert, gesellschaftliche Bedingungen dahingehend zu verschieben, dass schon getroffene Entscheidungen anfechtbar bleiben und sich neue „Anliegen“ politisch artikulieren lassen. (So galt beispielsweise „Gewalt gegen Frauen“ lange als individuelles Problem; erst die Frauenbewegung hat „Gewalt gegen Frauen“ als politisches Thema etabliert.) Der Kampf um Demokratie ist damit immer ein „unvollendetes Projekt“, ein anhaltender Prozess.

3. Die bürgerliche Demokratie ist eine Herrschaftsordnung, die durch systematische Privatisierung der Produktionsverhältnisse und durch Naturalisierung ökonomischer Prozesse gekennzeichnet ist. Dies führt dazu, dass sich die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten hinter dem Rücken der Menschen vollziehen und sich der bewussten demokratischen Steuerung entziehen. Sie führen zudem zu ungleichem Einfluss: Interessen können nicht mehr gleichberechtigt vertreten werden, wenn sie mit unterschiedlicher ökonomischer Potenz wahrgenommen werden.

4. Die Linke begnügt sich deshalb nicht mit der bürgerlichen Demokratie, sondern zielt auf eine sozialistische, auf radikale Demokratie: Nicht nur im politischen System, sondern auch in Schule, Betrieb und Familie sollen Aushandlungs- und partizipative Entscheidungsprozesse nicht-legitimierte Herrschaft zurückdrängen. Zum einen müssen hierfür die volkswirtschaftliche Produktionsweise und die betriebswirtschaftlichen Methoden einer demokratischen Steuerung unterstellt werden (Wirtschaftsdemokratie). Zum zweiten muss die durch soziale Ungleichheit hervorgerufene Machtdifferenz beseitigt werden (demokratischer Sozialstaat). Zum dritten muss die Macht von Bürokratie und Expertokratie durch kooperative Formen der Willensbildung ersetzt werden (Vitalisierung der Demokratie). Dabei geht es auch darum, Rechte von BürgerInnen gegenüber Verwaltungsabläufen zu stärken. Damit sollen Möglichkeiten eröffnet werden, scheinbar „sachliche“ Verwaltungsentscheidungen zu politisieren. Diese Projekte setzen wir der aktuellen Demontage der Demokratie entgegen.

5. Zentrale Planwirtschaftsmodelle sind gescheitert. Aber auch der Kapitalismus ist offensichtlich unfähig, die Lebensbedingungen dauerhaft abzusichern. Wirtschaftsdemokratische Ansätze haben hingegen den Vorteil, dass sie die Verfügungsgewalt über die Produktionsbedingungen sowie die demokratische Steuerung der Wirtschaft ohne zentralistische Detailplanung ermöglichen. Infrastrukturentscheidunge dürfen nicht durch privatwirtschaftliche Gewinninteressen bestimmt werden, sondern müssen im Ausgleich der Interessen aller Betroffenen getroffen werden. Dafür bedarf es wirtschaftsdemokratischer Entscheidungsprozesse und Institutionen. Auf einzelbetrieblicher Ebene ist die Mitbestimmung der Beschäftigten auszubauen. Auf regionaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene mündet dies in eine zu entwickelnde Rahmenplanung. Notwendig sind dafür Eingriffe in das Privateigentum, um dieses demokratisch zu ver„öffentlichen“.

6. Radikale Demokratie betont nicht nur gleiche Beteiligungschancen, sondern gleiche Möglichkeiten, sich tatsächlich einzubringen. Es geht also darum, die demokratischen Rechte substantiell zu unterfüttern. Politisches Engagement darf weder an geschlossenen Institutionen noch an Armut scheitern. Eine angemessene Antwort darauf ist eine soziale Infrastruktur, die sich an dem Leitbild des „demokratischen Sozialstaates“ orientiert. Der demokratische Sozialstaat wird nicht mehr und nicht weniger sein als Garant der Zugehörigkeit aller BürgerInnen zur Gesellschaft. Für eine funktionierende Demokratie sind die Planbarkeit im eigenen Leben, Angstfreiheit vor Behördenwillkür und realvorhandene Gestaltungsperspektiven wichtige Bedingungen. Deshalb schlagen wir u.a. eine hochwertige öffentliche Infrastruktur, wie z.B. kostenfreien Busund Bahnverkehr, sowie einen abgesicherten Einkommenskorridor von 1.000 bis 40.000 Euro monatlich vor: Jeder und jede muss in jeder Lebenssituation wenigstens 1.000 Euro haben. Zudem ist nicht ersichtlich, welche Leistung es rechtfertigt, mehr als das Vierzigfache des Mindesteinkommens zu bekommen; zumal die Zeit fehlt, solche Summen in Konsum umzusetzen. Deshalb sind wir für ein Maximaleinkommen von 40.000 Euro monatlich. Durch eine Begrenzung des Einkommens hätte die öffentliche Hand mehr Mittel fürs Soziale.

7. Aktuell erleben wir eine Demontage der Demokratie. Der Feldzug gegen das Öffentliche, der Angriff auf Grund- und Bürgerrechte und die Inlandnahme z.B. des Bildungssystems durch private Unternehmen gefährden die Demokratie. Die zunehmende soziale Spaltung erschwert die Kommunikation über die eigene Schicht hinaus. Ganze soziale Gruppen verabschieden sich aus dem demokratischen Prozess. Die Demokratie verkommt so zur Mittel- und Oberschichtendemokratie.

8. Die Stärkung des Individuums gegenüber der Verwaltung erfährt eine Herausforderung durch das E-Government, dessen Ziel die Digitalisierung aller Verwaltungsvorgänge ist. Elektronischer Personalausweis, digitale Gesundheitskarte und Jobcard-Verfahren statten alle mit rechtsverbindlichen digitalen Identitäten aus. Damit wandern die Schnittstellen zur Verwaltung in die Brieftaschen. Der Mensch ist virtuell immer im Beisein des Staates und wird somit für den Staat lesbar. Das Wissen darum, dass alles Handeln automatisch gespeichert wird, befördert Selbst-Regierung durch Selbst-Disziplinierung. Aussichten auf Emanzipation liegen in Ausgestaltungsformen, die für BürgerInnen ein Maximum an Verfügungsgewalt über sämtliche Daten gestatten: Das bedeutet, dass keine Transaktion mit Daten einer Person stattfinden kann, ohne dass diese die Verwendung dieser konkreten Daten zuvor gestattet hat.

9. Demokratie ist mehr als Urnen-Zettelwerfen in Jahresrhythmen. Demokratische Herrschaft soll Machtkontrolle sicherstellen. Sie ist deshalb auf individuelle Freiheitsrechte angewiesen. Einerseits muss die Umsetzung der Entscheidungen umfassende Beachtung finden. Anderseits muss der Schutz von Minderheiten vor willkürlicher oder nicht-legitimierter Herrschaft der Mehrheit gewährleistet sein. Deshalb steht die Linke für eine partizipative Willensbildung und grundrechtlichen Schutz vor willkürlicher Herrschaft. Maßstab hierfür ist, die Dominanz von strukturstarken Interessengruppen (Verwaltung, Parteiapparat, MandatsträgerInnen, „ExpertInnen“, LangrednerInnen, ZeithaberInnen, HonoratiorInnen usw.) zurückzudrängen.

10. Dies betrifft auch die Entscheidungsfindungen innerhalb der politischen Parteien. Schließlich spiegelt sich die Erosion der Demokratie in der Erosion der Mitgliederpartei, in deren Folge das Parteileben durch „straffe professionelle Führung“ ersetzt wird. Jedoch kann es im Umkehrschluss nicht um das bloße Einfordern von Basisdemokratie gehen, womöglich noch missverstanden als „Ich bin Basis. Und Basisdemokratie herrscht, wenn ich besonders viel rede.“ Die Erfahrung zeigt, dass vermeintlich „basisdemokratische“ Entscheidungen schnell durch strukturstarke Interessengruppen dominiert werden, die sich selbst zur Basis erklären. Solche Prozesse befördern häufig eins: informelle Herrschaft. Radikale Demokratie meint deshalb weder falsch verstandene Basisdemokratie noch vermeintliche Professionalität durch straffe Führung. RadikaldemokratInnen setzen sich ein für eine lebendige Mitgliederpartei, die Partizipationsräume, z.B. bei der Ausgestaltung von Kampagnen, bereithält, in der Entscheidungen im Vorfeld breit diskutiert werden und in der zudem ein Verständnis für demokratisch legitimierte Verantwortlichkeiten herrscht.

11. Erwachsen aus den Kämpfen gegen Sozialabbau besteht eine historische Aufgabe der Partei DIE LINKE nun darin, zur Vitalisierung der Demokratie beizutragen. Wenn man wie wir die bürgerliche Demokratie für einen historischen Fortschritt hält, so darf man nicht tatenlos zusehen, wie sie demontiert wird. Die bürgerliche Gesellschaft ist notwendig voller Konflikte, in denen es Partei zu ergreifen gilt. Auch wenn sie eine begrenzte Demokratie darstellt, bietet sie nicht nur Möglichkeiten, sondern auch die Notwendigkeit zum Eingreifen.