12.03.2009

Man weiß, man wird beschissen, aber hat sich dabei wenigstens gut unterhalten

Rezension: testcard, das Magazin für Popgeschichte #18 - „Regress“

Bernd Hüttner
Bernd Hüttner, Rosa-Luxemburg-Stiftung

In den 1990er Jahren entdeckte die radikale Linke „Kultur“ als Ausdruck von und als Mittel zur Dekonstruktion von hegemonialen Zuschreibungen. Viele wurden post-autonom, wenige andere FDP-Wähler. Die erste, weit größere Gruppe entdeckte, dass der Kapitalismus nicht nur grau, repressiv und langweilig war. Heute ist die Erkenntnis, dass Differenz kein emanzipatorisches Ding an sich ist, dass ästhetische Kritik und dass das, was früher als „underground“ oder „Subkultur“ bezeichnet wurde, einer der Katalysatoren der Modernisierung war, jenseits der Milieus, die sich in der LINKEN sammeln, kalter Kaffee. Es erinnert ein bisschen an „Warten auf Godot“. Was der radikalen Linken der 1970er Jahre die „Natur“ und die Hinwendung zu den Grünen war, ist der der 1990er die „Kultur“: „Wir haben uns jetzt der ´Kultur` zugewandt“. Pause. „Und was machen wir jetzt?“. Pause.

Eine Hilfe um die Zeit der Klärung zu überstehen, ist testcard, das Magazin für Popgeschichte. Gegründet 1995, sind seitdem 18 Ausgaben im von Martin Büsser und anderen betriebenen Mainzer Ventil-Verlag erschienen. Das aktuelle Heft enthält 210 Seiten mit Artikeln, und weitere 80 mit Besprechungen von Büchern und Tonträgern. In der Nummer 18 sind Texte, die im klassischen Sinne „politische“ Themen ansprechen, im Gegensatz zu den vorangegangenen Heften, eindeutig in der Überzahl. Gemeinsamer Fokus ist, so das Editorial[1], warum Religion, Kleinfamilie, Nation und Disziplin wieder eine Renaissance erleben. Natürlich finden sich im Heft die für solche Produkte unvermeidlichen verschwurbelten Texte, z.B. vom gemeinhin überschätzten Dietmar Dath oder vom testcard-Redakteur Johannes Ullmaier. Die anderen Artikel untersuchen in lesenswerter Manier viele Aspekte des Neoliberalismus. Themen sind der „Verfall“ des Popjournalismus, die unterschiedlichen Konzepte der Ladyfeste zwischen Mülheim und Wien, die Transformation und Entpolitisierung der Soziokultur. Die hegemoniale Kultur (oder Politik?) ist ebenso Thema: Ron Steinke untersucht die pädagogischen Prinzipien von Eberhard Bueb, Bushido und Roland Koch, während Thomas Waitz den vor allem vom Fernsehen medial vermittelten Zusammenhang von Körper, Essen und Armut beschreibt. Jörg Nowak, der sonst eher im Argument[2] schreibt, kritisiert die klassenselektive Familienpolitik der großen Koalition, die feministische issues zwar aufnehme, schlussendlich aber vor allem Standort und Volk nutzen wolle.

Die „Kultur“, hat auch ihren Platz: So findet sich ein eher bemühter Nachweis, wie konservativ der Film „I am Legend“ ist, weiter geht es um den amerikanischen Indepedentfilm und Büsser hat seine schon in der jungle world vom 14.8. 2008[3] veröffentlichte Verteidigung der Emos nochmals überarbeitet und aktualisiert.

Einige Autoren kommen, zumindest laut ihren ausführlichen und deshalb etwas deplatziert wirkenden Autorenangaben aus dem akademischen Betrieb, der große Rest beleibt relativ anonym. Die Lösung der eingangs angeführten Frage, warum es nun zu der Renaissance gekommen ist, bleibt das Heft schuldig. Zwar wird anschaulich beschrieben, dass die Post-68er und sozialen Bewegungen zur Hegemonie des Neoliberalismus beigetragen haben, aber so ist das mit „Pop“: Man weiß, man wird beschissen, aber hat sich dabei wenigstens gut unterhalten. Warum das Heft „Regress“ heißt, was ja laut DUDEN (www.duden.de) Rückkehr oder Zuflucht bedeutet, und nicht z.B. Regression, hat sich mir nach seiner Lektüre nicht erschlossen. Testcard ist trotzdem wichtig – und angenehm zu lesen.

testcard 18, Regress, Ventil Verlag[4], Mainz, Februar 2009, 300 S., 14,50 EUR.

Zum Autor:

Bernd Hüttner, Jahrgang 1966, Politikwissenschaftler, arbeitet als Regionalmitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bremen. Koordinator des bundesweiten Gesprächskreises Geschichte der RLS und Mitglied der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE.
Weiteres siehe hier auf der Website der Bremer Landesstiftung der RLS[5].

Links:

  1. http://www.testcard.de/titel.php?pid=796
  2. http://www.argument.de/wissen_index.html
  3. http://jungle-world.com/artikel/2008/33/22417.html
  4. http://www.ventil-verlag.de/
  5. http://www.rosa-luxemburg.com/?page_id=12#huettner