01.05.2009

1. Mai: Die Würstchenbude ist großartig, alles andere ist Quark.

Die Arbeiterklasse in der Wirtschaftskrise 2009

Jörg Schindler

Während in den USA gerade mit Chrysler der erste "systemrelevante" Autobauer Insolvenz angemeldet hat - trotz der massiven Intervention der neuen sozialdemokratischen Obama-Regierung - und die Einschläge steigender Arbeitslosenzahlen täglich näher auch in Deutschland zu hören sind, feiern die Kräfte des Fortschritts den 1. Mai. Das mag als solches nicht ungewöhnlich, sondern eher Grund zur Freude sein. Wären da nicht gewisse Formen der Realitätsverweigerung.

Die Würstchenbude ist großartig, alles andere ist Quark.

Nehmen wir das Industrieproletariat. Pünktlich 10 Uhr findet es sich auf den Märktplätzen und Stadtparks diverser Klein- und Großstädte zum fröhlichen Stelldichein ein. Bei Würstchenbude, verdünnten Hellbier und frischgebügelten Kurzarmhemd wird "Kolleesche" begrüßt und über dies und das geklönt. Wie gehts der Tochter? Ach, machtse jetzt auch ne Ausbildung? Und dem Gerd? Meeensch, das hätte ich ja nicht gedacht.

Währenddessen hält der Ortskartellvorsitzende ne hochnotkämpferische Rede, in der er die Politiker an ihre Wahlversprechen, die Unternehmen an ihre Verantwortung für Belegschaft, Volk und Vaterland sowie die Anwesenden an ihr Klassenbewusstsein erinnert. Gekrönt wird dies mit der impulsiven Forderung nach Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit. Allen Beteiligten ist klar: Das muss so sein, ist aber auch egal, weils eigentlich auch niemand so richtig interessiert.

Der Krawall ist großartig, alles andere ist Quark.

Nehmen wir das Ersatzproletariat. Beheimatet ist es in den diversen Großstädten und meldet pünktlich zum 1. Mai, vertreten durch antihierarchisch handelnde Menschen aus ihren Reihen, wiederum eine "revolutionäre 1.-Mai-Demo" an. Nachdem bereits im Vorfeld die radikale Konfrontation mit dem Staat und seinen Bütteln, der Polizei und Versammlungsbehörde, auf dem Gebiete des Anmeldungsbürokratismus ausgefochten wird (Höhepunkt wäre dann ggf. die Fortsetzung des Scharmützels vor dem einschlägigen Verwaltungsgericht, welches dann festlegt, welchen Fußbreit die Demoroute noch haben darf, ehe die Schlägerübergriffe der Polizei als rechtmäßig gelten), sammeln sich die radikalen Kämpferinnen und Kämpfer zu einer extrem systemstürzend relevanten Demo, an deren Ende das Rating der Zahl von Polizeiübergriffen, Verletzten, beschädigten Bonzen- und Proletenkarren am Straßenrand und Nachrichtensekunden im abendlichen Programm steht.

Was lernt uns das?

Was lernt uns das, fragt Oma lebensweisheitlich. Nun, alles ist wie immer. Sowohl Proletariat als auch Stellvertreterproletariat sind trotz Wirtschaftskrise nach wie vor mit ihren liebgewordenen Gewohnheiten beschäftigt. Der Feiertag des 1. Mai gilt weiterhin der Huldigung des Sonnenwetterkapitalismus der Wohlstandsperiode. Schön säuberlich getrennt marschieren Würstchenbudenbesucher und Krawallmacher - beides die schlechten Seiten des Arbeiterklassenkampftages - durch die Lande und verbreiten schlechte 1.-Mai-Stimmung. Menschen, die sich davon nicht angesprochen fühlen, - wie ich - besuchen derzeit miesepetrig die eine oder andere Veranstaltung. Dies ist ein Aufruf: Proletarier aller Autobauer, überwindet Euch und fahrt in die Großstädte. Und Stellvertreterproletarier aller Couleur, zeigt den Proleten Eure Stadt. Demonstriert gemeinsam. Mitten in der Wirtschaftskrise. Für einen 1. Mai 2010 ohne Würstchenbude und Krawalleristik!