04.05.2009

„Ausverkauf der Politik“

Ein gelungenes Buch von Katja Kipping

Dieter Klein
Buchcover des ECON-Verlages

„Ausverkauf der Politik“ – Würde dieses Buch Katja Kippings auf wundersame Weise zur Lektüre in den Schulen, so hätte die junge Generation ein paar Chancen mehr, der Demokratie neues Leben zu geben. Würde es in der LINKEN viel gelesen, täte es auch deren Erneuerung als Antwort auf die gegenwärtige große Krise gut.

Dieter Klein und Christoph Spehr, bei der Buchvorstellung der RLS vom 21. März 09

Die Erosion der Demokratie in Deutschland ist das Thema des Buches vom „Ausverkauf der Politik“. Auf den ersten Blick scheint es größerer theoretischer Ansprüche zu entraten. Es ist ein Buch, das die Leserin und den Leser in eine lebensweltliche Wanderung durch alle wichtigen Sphären der Gesellschaft hineinzieht. Und allerorten stoßen wir auf das gleiche Grundübel, auf unterschiedlichste Gestalten der Aushöhlung und Schwächung der Demokratie. Es ist ein besonderes Verdienst in diesem Buch, dass die Erosion der Demokratie nicht, wie so häufig, einseitig als obrigkeits- und überwachungsstaatliche Tendenz, als autoritäre Entwicklung und Verlust von Arbeiterrechten verstanden, sondern als ein komplexer Prozess in nahezu allen Be-reichen der Gesellschaft sichtbar gemacht wird.

Katja Kipping, Adeline Otto und Katharina Weise bei der Buchvorstellung der RLS vom 21. März 09

Aber das wird uns nicht demokratietheoretisch erklärt, sondern eine engagierte Parlamentarierin führt uns beispielsweise anschaulich aus eigener Erfahrung vor, wie Entscheidungen und Strategiebildung vorbei an den Abgeordneten in nicht legitimier-te Expertengremien ausgelagert werden – die noch dazu oft einseitig unter dem Ein-fluss von Repräsentanten der ökonomischen Machteliten stehen. Verfahren werden durchgepaukt, die den Abgeordneten gerade mal eine Nacht für das Durcharbeiten von ein paar hundert Seiten Entscheidungsmaterial lassen. Aktionismus und Pragmatismus ersetzen nicht selten wirkliche Politik. Auf der Strecke bleibt die Demokratie. Und wenn Katja Kipping dann einfordert, die „Politik wieder aus den selbsternannten oder undemokratisch eingesetzten Geheimzirkeln zurück“ zu holen, liegt auf der Hand: Das ist vernünftig, die Gesellschaft braucht eine Erneuerung der Demokratisierung.

Aber Katja Kipping führt uns vor allem in die Normalität des Alltagslebens hinein. Und beiläufig gewinnt das Profil einer Politikerin Konturen, die eng mit den Problemen von Bürgerinnen und Bürgern verbunden ist – ob sie sie beim Erwerbslosenfrühstück in der Dresdener Dreikönigskirche aufnimmt, in der Initiative erwerbslose Akademiker, beim Fotoshooting – welche Eigenschaften sollen Frauen per Bild zugeschrieben werden – oder im Kontakt mit einer Schülerinitiative für günstige Verkehrstickets. „Die Zerstörung des Öffentlichen“ ist eines ihrer Themen. Sie zeigt, was es für das Schwinden von Demokratie bedeutet, wenn öffentliche Räume der Begegnung, für Protestcamps beispielsweise, wenn Seniorentreffs und Jugendklubs geschlossen werden, wenn private Medien interessengeleitet die Information der Bürgerinnen und Bürger dominieren, wenn Stadtwerke privatisiert werden und die Kommunen dabei ihren öffentlichen Einfluss auf die Energie- und Klimapolitik verlieren. Und wenn Steuersenkungen – vor allem zugunsten der Reichen – den finanziellen Spielraum für öffentlichen Einfluss schwinden lassen.

Kipping zeichnet den Abbau des Sozialstaats nach. Ihr Fokus ist dabei, was mit der Demokratie, mit dem Engagement von Bürgerinnen und Bürgern geschieht, wenn BezieherInnen niedriger Einkommen, gar von Arbeitslosengeld II, kaum noch die Fahrt zu einer Versammlung bezahlen können, wenn für Zeitungen und Bücher 7,59 ¤ im Monat ausreichen sollen und 1,47 ¤ für Kinderwünsche als angemessen be-trachtet werden.

Wir können mit vollziehen, wie die Chancen von Kindern von vornherein beschnitten sind, die in Problemquartieren aufwachsen, in deren Familien sprachliche Ausdrucks-fähigkeit nicht gefördert werden kann und Theaterbesuche einer fernen fremden Sphäre angehören. Ein unzureichendes Bildungsniveau ist vorprogrammiert, der Zu-gang zu höherer Schulbildung und gar zur Universität weigehend blockiert. Auf den Geburtstagsfesten von Familien in prekären Lebenslagen werden keine Beziehungsnetze geknüpft, die Aufstieg versprechen. Bei Katja Kipping kommt Pierre Bourdieus Theorie von Sozialkapital und kulturellem Kapital samt der von ihm analysierten Bedeutung des sozialen Habitus in der Gestalt von Alltagsbeschreibungen daher, die jede und jeder verstehen kann.

Und wir sind, ohne dass es bei der Autorin wütiger Schimpf- und Kraftausdrücke zur Kennzeichnung des neoliberalen Kapitalismus bedarf, mit ihr empört, dass in Kindertagesstätten und Schulen diese der sozialen Herkunft geschuldeten Defizite so vieler Kinder nicht einmal annähernd eine Korrektur erfahren. Wir empfinden Wut, wenn sie dann noch die Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage zitiert: dass den Kindern von Hartz-IV-Empfängern doch durchaus die gleichen Bildungsmöglichkeiten wie anderen Kindern offen stünden.

Allmählich erfassen wir, dass dem Konzept des Buches durchaus strikte theoretische Überlegungen zugrunde liegen. Die gegenwärtige Gesellschaft wird als eine ausdifferenzierte Gesellschaft analysiert, die unterschiedliche Teilsysteme umfasst: Politik, Wirtschaft, Rechtssystem, Bildung, Gesundheit usw. Für alle diese Systeme wird gezeigt, wie ihre gravierenden Defizite die Persönlichkeitsentfaltung der Individuen beschränken und wie insbesondere die Demokratie durch den Mangel sozialer Sicherheit, durch Bildungsdefizite, durch Klassenspaltung im Gesundheitswesen und durch obrigkeits- und überwachungsstaatliche Aushöhlung von Rechten der Bürgerinnen und Bürger schwer deformiert wird. Die Demokratie bedarf der Verankerung und förderlicher Bedingungen in allen Teilsystemen der Gesellschaft. Aber überall werden ihr zunehmend Voraussetzungen entzogen.

Die verschiedenen Abschnitte des Buches stützen sich auf die Einsichten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und – ein weiterer Vorzug des Buches – nicht selten auf Anstöße aus Kunst und Literatur. Aber nicht Theorien werden expliziert, sondern wir berühren die Lebenswelten, die in den Theorien verallgemeinert werden und verstehen dann, jeweils nur durch wenige Sätze auf den Punkt gebracht, was in den Theorien steckt oder in ihnen falsch und interessengeleitet reflektiert wird.

Besondere Aufmerksamkeit wird im vorliegenden Buch der Arbeitssphäre und dem Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen gewidmet – nicht verwunderlich für alle, die Katja Kippings politisches Profil beobachten. Und sie hat ein unverwechselbares Profil, was bei weitem nicht über alle Politikerinnen und Politiker der LINKEN gesagt werden kann.

Allerdings ist das Kapitel über Arbeit vor allem als Argumentation gegen die „Glorifizierung der Arbeit“ geschrieben. Richtig wird darauf verwiesen, dass die Verbindung zwischen Leistung, Arbeit und Einkommen schon längst erodiert. Ein großer Teil der aufgewendeten Erwerbsarbeit bringt vom Standpunkt der Persönlichkeitsentfaltung sinnlose Gebrauchswerte und Leistungen hervor und hat oft Zwangscharakter. Viel-fach wird entfremdete und demütigende Erwerbsarbeit geleistet. Dagegen wird der Wert freiwilliger gesellschaftlicher Arbeit und die Bedeutung von gesellschaftlich wenig anerkannter häuslicher Familienarbeit für die Gesellschaft betont. Daraus werden jedoch kaum Schlussfolgerungen für eine emanzipatorische Veränderung der Erwerbsarbeit, für gewerkschaftliche Kämpfe um „gute Arbeit“ und um Konversion zu sozialökologisch sinnvollen Produktionsstrukturen gezogen.

Es kommt Katja Kipping ja darauf an, in einem folgenden Kapitel ein bedingungsloses Grundeinkommen für jede und jeden als „Demokratiepauschale“ in das Zentrum der von ihr entwickelten Alternativen zu stellen. Damit leistet sie mit einer gewissen Logik einem Vorwurf vieler Kritiker des bedingungslosen Grundeinkommens Vor-schub. Diese halten es für problematisch, dass ein demokratischer, sozial und ökologisch orientierter Umbau der Arbeitswelt - so wie etwa bei Wolfgang Engler - ausdrücklich eher in das „Reich eines abgeschlossenen historischen Kapitels“ verwiesen wird – zugunsten der Gestaltung eines mit Hilfe des Grundeinkommens selbstbestimmten Lebens jenseits der Erwerbstätigkeit.

Gleichwohl sind Kippings Argumente für ein bedingungsloses Grundeinkommen ü-berwiegend stark und einleuchtend. Sie könnten aber ebenso für eine repressionsfrei zu gewährende bedarfsorientierte soziale Grundsicherung für alle diejenigen ins Feld geführt werden, die bedingt durch Alter, Krankheit, Ausbildung oder Arbeitslosigkeit ihr Einkommen nicht durch Erwerbsarbeit sichern können. Da sich keine Verständigung zwischen beiden Positionen abzeichnet, sollten sich beide Seiten auf gemeinsame Grundanliegen, auf gemeinsame nächste Schritte zu mehr sozialer Sicherheit als Bedingung selbstbestimmten Lebens und auf gemeinsame Kämpfe dafür verständigen. Der Ausgang dieser Kämpfe mag als ein offener Prozess betrachtet wer-den, der ohnehin nicht durch die nächsten Schritte vorentschieden wird.

Ein starkes Kapitel, für Frauen und besonders für Männer ganz sicher mit erheblichem Gewinn für eigenes Verhalten zu lesen, ist das Plädoyer für Geschlechtergerechtigkeit. Die von Katja Kipping wohltuend gepflegte Diskurskultur schließt in diesem Kapital auch parteiübergreifende Solidarität ein, etwa mit Andrea Ypsilanti, Andrea Nahles und Frau von der Leyen. Nachdenklich macht, was die Autorin zu einem unbewussten Antifeminismus bei Männern zu bedenken gibt. Im Abschnitt zu einem erneuerten Feminismus vermittelt sie ein Gefühl für Ambivalenzen in gesellschaftlichen Szenen mit feministischem Einschlag, die den älteren Durchschnittslinken wohl in der Regel ein Buch mit sieben Siegeln sind. Dass sich da eine Frau auch aus eigenen Erfahrungen nicht allein auf feministische Überredungskünste zu beschränken gedenkt, spricht höchst erfrischend aus dem Abschnitt „Machiavelli für Frauen“.

Im Kapitel über „eine neubegründete Linke“ wird deutlich, wie stark feministisch-demokratisches Denken in die Gesamtprofilierung der Linken – zumindest verbal – einzugreifen vermag. Das ganze Buch handelt von der Erosion der Demokratie in der gegenwärtigen Gesellschaft. Und jedes Kapital endet mit Vorschlägen zur Erneuerung der Demokratie.

Sehr zwingend mündet dieser rote Faden ein in die erste Forderung an ein linkes Projekt heute: Zentral für eine linke Partei ist, sich ebenso als Partei der Emanzipation, der Demokratie und individuellen Selbstbestimmung zu verstehen wie als Partei des Sozialen und der Gerechtigkeit. Freiheit und soziale Rechte gehören zusammen wie der Kampf um die Verfügung über Produktionsmittel und der Kampf um die Verfügungsgewalt über das eigene Leben. Das setzt Katja Kipping gegen eine Tendenz in der Linken, die Freiheit zur Selbstbestimmung des eigenen Lebens für jede und jeden als zweitrangig anzusehen.

Als weitere zentrale Momente für die Identität einer linken Partei werden globale Gerechtigkeit als Einheit von sozialer und ökologischer Frage und ein Abschied der Linken vom Wachstumswahn hervorgehoben. Die letztgenannte Forderung an eine linke Partei hat es in sich, betrachtet doch aufgrund vieler Erfahrungen insbesondere ihre gewerkschaftliche Strömung das Wachstum als die günstigste Bedingung für die Durchsetzung von Zielen der Lohnabhängigen. Aber wenn DIE LINKE in dem bevor-stehenden Kämpfen um einen sozialökologischen Umbau der Gesellschaft, dem wahrscheinlich zentralen Problem des 21. Jahrhunderts, eine starke Position ein-nehmen will, kommt sie an dieser in ihrer Programmatik bisher völlig vernachlässigten Frage nicht herum.

Zur Identität der LINKEN gehört natürlich – aber keineswegs von allen Mitgliedern bewusst angenommen – ein Selbstverständnis als feministische Partei. Zu dieser Identität gehört ferner, dass die Richtlinienkompetenz bei der Partei und nicht bei der Fraktion liegen soll. Als unumgänglich für linke Parteien sieht Katja Kipping einen klaren Bruch mit Elementen autoritärer Führung an. Und sie will einen Raum für Lebenslust in der Partei. Das Projekt der Partei DIE LINKE wird dezidiert als transformatorischer Prozess verstanden, in dem der alte Streit zwischen Reform und Revolution aufgelöst wird. Was für ein schöner Beitrag zur künftigen Programmatik der LINKEN und für ihre tatsächliche Entwicklung! Achtunddreißig Seiten gebündelter Anspruch an DIE LINKE, die es in sich haben – zu recht. Und die in der Realität der LINKEN nicht leicht durchzusetzen sein werden.

Mein Lob des vorliegenden Buches wäre unproduktiv für Katja Kipping, würde es nicht ein paar kritische Anmerkungen einschließen – außer den Fragen zu Arbeit und Grundeinkommen.

Erstens mag die Frage erlaubt sein, ob der Zerstörung der Demokratie durch die Dominanz des Profits der ökonomischen Machteliten in Wirtschaft und Gesellschaft nicht größeres Gewicht beigemessen werden sollte. Strategische Entscheidungen über Volkswirtschaftsstrukturen, über menschliche Sicherheit oder ihr Gegenteil, über das reale Verhältnis von Ökonomie und Ökologie, über Abwendung oder Heraufziehen einer Klimakatastrophe, über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Nord und Süd mit Folgen für Leben oder Tod von Hunderten Millionen Menschen in den Entwicklungsländern fallen häufig in den Zentralen transnationaler Unternehmen und nicht zuletzt auf den Finanzmärkten – vorbei an den Institutionen der Demokratie.

Zweitens: DIE LINKE kann nur mit einer proeuropäischen Orientierung, nur im Rahmen europäischer und globaler Solidarität erfolgreich sein. Müssten nicht – etwa in einem nächsten Buch der Autorin – als Raum der Erneuerung der Demokratie zumindest die europäische Dimension und darüber hinaus globale Prozesse erheblich stärker beachtet werden? Denn gegenwärtig ist der Souveränitätstransfer von Nationalstaaten an multinationale Regierungsinstitutionen außerhalb demokratischer Kontrolle ein zweiter Mechanismus der Erosion von Demokratie neben der Übermacht des transnationalen Kapitals.

Drittens – weniger als Kritik, denn als Problematisierung: Kategorien linken Denkens wie Kapitalismus, demokratischer Sozialismus, Profitsystem, Regulationsweise usw. tauchen in Katja Kippings Buch kaum auf. Wahrscheinlich ist dies ein seltener Vorzug: Eine linke Politikerin, noch dazu die stellvertretende Parteivorsitzende, vermag grundkritisch über den Zustand der Gesellschaft auf sehr verständliche Weise zu schreiben, ohne das gewohnte linke Vokabular zu strapazieren. Zweifellos ein Vorteil, um Menschen über das gewohnte Umfeld der LINKEN hinaus zu erreichen.

Aber begriffliche Schärfe ist gleichwohl eine Bedingung auch in den künftigen geistigen Auseinandersetzungen. Vielleicht wäre es eine Möglichkeit, zum Ende wichtiger im Buch behandelter Problemkreise – jeweils etwa in einem Kasten – ganz knapp zu erläutern, wie ein anschaulich dargestellter Komplex in der Theorie und in Kategorien Niederschlag findet. Aber wahrscheinlich würde ein solches Vorgehen zu einem Bruch in der klaren, lebensnahen, in knappen unverschachtelten Sätzen daherkommenden Präsentation führen. Ich ziehe meine Erwägung deshalb wieder zurück.

Gratulation zu diesem Buch!

Katja Kipping: »Ausverkauf der Politik. Für einen demokratischen Aufbruch« erschien im März 2009 im ECON-Verlag[1]. Gebunden, 368 Seiten, ISBN: 978-3-430-20079-0

Zum Autor:

Prof. Dieter Klein ist Leiter der Zukunftskommission der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitglied der Programmkommission der Partei DIE LINKE. – Dieser Beitrag ist die schriftliche Fassung seines Kommentars zum Buch bei der Buchvorstellung der RLS am 21. März 09[2]. Ein Bericht zur Veranstaltung findet sich bei der Emanzipatorischen Linken[3].

Links:

  1. http://www.ullsteinbuchverlage.de/econ/buch.php?id=13285&page=buchaz&sort=autor&auswahl=A&pagenum=1
  2. http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=18491
  3. http://www.emanzipatorische-linke.de/node/141