02.06.2009

Anforderungen an ein sozialistisches Konzept zum demokratischen Umbau der Arbeitsgesellschaft

Thesenpapier für die Mitgliederversammlung der Sozialistischen Linken NRW in Köln am Sonntag, 10. Mai 2009

Astrid Kraus, Alban Werner
Alban Werner

"Die Befreiung kann uns nicht gegeben werden, wir müssen sie selbst erobern.
Erobern wir sie nicht selbst, so bleibt sie für uns ohne Folgen.
Wir können uns nicht befreien, wenn wir nicht das System, das uns unterdrückt, und die Bedingungen, aus denen das System erwächst, beseitigen. Wie aber soll die Befreiung nun von uns ausgehen, wie sollen die Umwälzun-gen vollzogen werden, wenn wir immer nur gelernt haben, uns zu fügen, uns unterzuordnen und auf Anweisungen zu warten"
(Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands I, S. 226).

I. Grundsätzliche Bemerkungen
(1) Ausgangspunkt ist, dass gesellschaftliche Wertschöpfung auf menschlicher Arbeit beruht und daher Arbeit ein notwendiger Bestandteil gesellschaftlichen Miteinanders ist. Gleichzeitig bietet Arbeit, verstanden als gesellschaftlicher Beitrag, die Möglichkeit zur Selbsterfahrung und zum sinnstiftenden und sinnvollen gesellschaftlichen Austausch.
(2) Es ist falsch, dass „der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht“. Richtig ist, dass jede komplexe Gesellschaft das Problem lösen muss, wie die in ihr zu verrichtenden Arbeiten auf ihre Mitglieder verteilt werden und wie sie den Wert der Arbeit bemisst, durch den die Arbeitenden Ansprüche auf die Teile des gesellschaftlich erzeugten Reichtums erwerben.
(3) Die Regulierung gesellschaftlicher Arbeit erfolgt über den Arbeitsmarkt, auf dem eine Mehrheit der Menschen ihre Arbeitskraft als Ware anbieten muss.
(4) Im heutigen Kapitalismus existiert Arbeit in vergesellschafteter Form nahezu ausschließlich in der Form von Lohnarbeit und ist als solche grundlegend in Herrschaftsverhältnisse eingebunden. Ein Teil der Früchte der Arbeit in Form von Gütern und Dienstleistungen wer-den von den Besitzern von Produktionsmitteln angeeignet.
(5) Gleichzeitig beruht die kapitalistische Produktionsweise nicht nur auf der bezahlten Erwerbsarbeit in der Produktion (Dienstleistungen eingeschlossen), sondern mindestens glei-chermaßen auf den zahlreichen gratis geleisteten reproduktiven Arbeiten, d.h. Familien-, Erziehungs- und Sorgearbeit.
(6) Materielle Teilhabe an der Gesellschaft, gesellschaftliches Ansehen und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Einflussnahme der Mehrheit der Menschen hängen von ihrer Position in der Arbeitsgesellschaft ab.
(7) Generell abgewertet werden in unserer Gesellschaft Menschen, die unfreiwillig von der Lohnarbeit ausgeschlossen werden. Mit wenig Ansehen verbunden sind Arbeiten, die den o.g. Reproduktionsarbeiten nahe stehen, selbst wenn sie öffentlich oder privatwirtschaftlich orga-nisiert und tarifvertraglich abgesichert sind.
(8) Die Arbeitsgesellschaft zeigt unleugbar patriarchale Züge: Obwohl Frauen weltweit 70 % der notwendigen Arbeit leisten, besitzen sie nur 2 % des Vermögens und beziehen nur 10 % des bezahlten Einkommens.
(9) Die Art der Arbeiten, die in unserer Gesellschaft verrichtet werden, ihr Umfang, ihre Entlohnung und ihr Ansehen sind nicht Ergebnis eines demokratischen Prozesses. Gearbeitet wird zur Herstellung von Waren, deren Verkauf Profit erzielt. Dies schließt auch Natur- und Menschen und Reichtum vernichtende Waren wie Waffen, toxische Erzeugnisse oder fragwürdige Produkte auf den Finanzmärkten ein.
(10) Die Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft unterliegt für ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer deswegen nicht nur Verhältnissen entfremdeter Arbeit, sondern auch dem anonymen Zwang der Kapitalverwertung, der alle AkteurInnen auf dem kapitalistischen Markt beherrscht. Die Herrschaft des Kapitals blockiert alle Versuche, die gesellschaftlich zu verrich-tende Arbeit entsprechend bestimmter Wertvorstellungen (wie Selbstbestimmung, Kooperation, Nachhaltigkeit usw.) zu gestalten. Der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft müssen Refor-men zugunsten der von Arbeit abhängigen durch kollektive, solidarische Mobilisierung poli-tisch aufgezwungen werden.

II. Umbrüche der gesellschaftlichen Arbeit
(11) Wir beobachten an allen Ecken eine radikale Veränderung der Arbeitswelt. Prekarisierte Arbeitsverhältnisse, verschwimmende Grenzen zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit durch die Hartz-Gesetzgebung, Entgrenzung durch Flexibilisierung, die grausame Entstellung dringend benötigter öffentlicher Arbeiten als „Ein Euro-Jobs“ usw. Die herrschende neoliberal-kapitalistische Politik hat den Anspruch, die Arbeitsgesellschaft politisch zu gestalten, weitgehend aufgegeben.
(12) Im Kern der Veränderungen steht das Ende des sog. „Normalarbeitsverhältnisses“ (NAV), wie es zumindest für einen großen Teil der männlichen Erwerbsarbeiter in der Nach-kriegsperiode bestanden hat. Das NAV bedeutete für die Lohnabhängigen trotz der offenen Diskriminierung von reproduktiver Arbeit einen geschichtlichen Fortschritt, weil es ihnen einen Status gab, der soziales Ansehen bedeutete und die Möglichkeit, sich für weitere Verbesserungen ihrer Lebenssituation öffentlich und legal einzusetzen.
(13) Für viele Menschen war die ihnen gesellschaftlich auferlegte Rolle ein zu enges Korsett. Insbesondere die Frauenbewegung kritisierte zu Recht das frauenfeindliche, einseitig eine „Ernährer-Rolle“ des Mannes unterstützende Korsett des Arbeitsmarktes und des Wohlfahrts-staates. Die neoliberale Politik nutzte hier klug die an sich emanzipatorische Kritik, um das NAV zu zerstören. Sie nutzte die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen für Lohnsenkun-gen und Flexilisierung des Arbeitsverhältnisses bei allen Lohnabhängigen..
(14) Gleichzeitig reagierten die UnternehmerInnen auf die zunehmenden Unterschiede unter den Lohnabhängigen (vor allem im „oberen“ Segment) und deren Bedürfnisse nach weniger stumpfen Arbeitsverhältnissen, indem sie zahlreiche neue Steuerungsformen von Arbeit einführten. Mit Formen von Team-, Projekt und zeitlich frei eingeteilter, mitbestimmter Arbeit schufen sie neue Freiheitsspielräume.
(15) Diese Spielräume allerdings haben eine grundsätzliche Grenze darin, dass sie „mehr Druck durch mehr Freiheit“ erzeugen und die Beschäftigten zu verschärfter Ausbeutung antreiben sollen. Es handelt sich um eine neue Art und Weise kapitalistischer Herrschaft, die zugleich aber Möglichkeiten für eine fortschrittliche Veränderung der Arbeitswelt.
(16) Die notwendige Reproduktionsarbeit wird in Ermangelung eines ausreichend großen öffentlichen Sektors immer stärker ehrenamtlich bzw. unbezahlt (über das bezahlte Arbeitsvo-lumen hinaus von den öffentlich Beschäftigten) geleistet. Dabei zeigen Probleme mit rechtsextremen Jugendlichen, die skandalöse Unterversorgung im Bereich der Seniorenpflege, die mangelhaft ausgestatteten freien Träger im sozialen Bereich, der Verfall öffentlich Kulturan-gebote u.v.a., wie dringend es wäre, die im Bereich der Privatwirtschaft gebundene oder durch Arbeitslosigkeit gesellschaftliche entwertete Arbeitskraft sinnvoll und angemessen be-zahlt einzusetzen.

III. Eingrenzungen und Abgrenzungen
(17) Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) ist nachvollziehbar vor dem Hintergrund der Verknüpfung von gesellschaftlicher Stellung und Positionierung in der Erwerbsarbeitsgesellschaft und den skandalösen materiellen und gesellschaftlichen Schikanen gegen Erwerbslose. Das BGE wählt aber den falschen Ansatz für eine sozialisti-sche Neugestaltung der Arbeitsgesellschaft. Zwar stellt auch das BGE den Versuch einer Lösung zur Sicherung der Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum aller Erwerbsabhängigen dar, aber anstatt zu einer demokratischen und gemeinschaftlichen Lösung der Frage nach einer Neuorientierung der Arbeitsgesellschaft aktiv beizutragen, wird das Problem durch das BGE individualisiert und die Menschen werden mit einer „Stilllegungsprämie“ abgefertigt. Es leuchtet nicht ein, warum ein BGE, das nach wie vor lediglich einen gesellschaftlichen Mindeststandard sichert, die Arbeitsgesellschaft nachhaltig verändern soll, wenn jene, die ein Einkommen oberhalb des Existenzminimums erhalten wollen, zugleich weiterhin dem „stummen Zwang“ (Karl Marx) der unverändert existierenden Lohnarbeit ausgeliefert sind.
(15) Wir brauchen ein sozialistisches Projekt zur radikalen Neugestaltung der Arbeitsgesellschaft. Wir wollen dabei den Begriff der Arbeit bewusst möglichst weit fassen: Er schließt alle Formen von Arbeit ein, die für das Überleben und die fortschrittliche Weiterentwicklung der Gesellschaft notwendig sind, d.h. Produktions- und Reproduktionsarbeit.
(16) Im Mittelpunkt dieses Projekts steht der Kampf um nicht-entfremdete Arbeitsverhältnisse, deren Gestaltung nicht dem allgemeinen Zwang der Kapitalverwertung untersteht, sondern durch demokratische Entscheidungen der Bevölkerungsmehrheit erfolgt.
(17) Dieses Projekt ist radikal demokratisch, weil es demokratisch nicht zu rechtfertigende Herrschaftsverhältnisse, die durch unterschiedliche Positionen innerhalb der Arbeitsgesellschaft entstehen, abschaffen will. Es ist feministisch, weil es Erziehungs-, Familien- und Pflegearbeiten aufwerten und zwischen den Geschlechtern konsequent gleich und gerecht verteilen will. Es ist sozialistisch, weil alle diese Aspekte im Kern bedeuten, die im Zentrum der kapitalistischen Wirtschaft stehende private Verfügung über Produktionsmittel einzuschränken und zu überwinden.
(18) Viele wichtige Gesichtspunkte in diesem Projekt bleiben offen, viele Fragen sind noch ungeklärt und noch gar nicht richtig formuliert. Erste Fragen sind: Welche Rolle spielt Konkurrenz als Koordinationsmechanismus der gesellschaftlich zu verrichtenden Arbeiten? In welcher Weise kann demokratisch, effizient und ökologisch nachhaltig darüber bestimmt werden, wofür, wie und wann der gesellschaftliche Reichtum investiert werden soll? Wie bestimmt sich die Entlohnung der Arbeit? Wo kann Veränderung auf Basis der heutigen Verhältnisse ansetzen? Wir lässt sich internationale Arbeitsteilung demokratisch organisieren?
(19) Nicht klar ist, wer unsere BündnispartnerInnen bei diesem Projekt sind. Zum einen gibt es etwa bei den Gewerkschaften noch starke (wenn nicht mehrheitsfähige) Kräfte, die in erster Linie zurück zum Normalarbeitsverhältnis möchten und dabei Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und ökologischen Nachhaltigkeit zu wenig berücksichtigen. Dies ist auch ver-ständlich, weil es sich um Organisationen handelt, die in erster Linie materielle Interessen ihrer Mitglieder vertreten.
(20) Zum anderen braucht die oben beschriebene sozialistische Transformation der Arbeit eine andere gesellschaftliche Hegemonie, bis hinein in viele selbstverständliche Wertvorstellungen der Menschen über Verteilung der Arbeit im Haushalt, in der Familie und in der Ge-meinde.
(21) Schließlich müssen wir über unsere Arbeitsformen entscheiden, in denen wir hier voran schreiten wollen.