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Die griechische Revolte 2008

Elena Papadopoulou

In den letzten Wochen hat sich das griechische Parlament mit einem erneuten Korruptionsfall beschäftigt, der Teil einer langen Serie von Korruptionsvorfällen ist. Die liberale Regierung und sozialdemokratische Opposition streiten sich um den Grad und die Tiefe der Verwicklungen und darüber, wie in den einzelnen Ministerien damit umgegangen wird. Das Ganze findet in einem Land statt, in dem normale SchülerInnen die meiste Zeit des Tages die öffentliche Bildung mit Privatstunden anreichern, die sich viele Familien kaum leisten können.

Die Durchschnittsstudentin ist unsicher über das Potential des Bildungssystems, ihr eine sichere Zukunft oder einen Job zu verschaffen. Und die jungen ArbeitnehmerInnen verdienen im Durchschnitt 700 Euro pro Monat und leben bei ihren Eltern.

Was ist die Relevanz all dieser Dinge für die griechische Revolte und die dahinter stehenden Motive? Ich denke, dass in der Revolte vom Dezember 2008 eine ökonomische, ideologische und politische Krise mit einer Krise der Wertvorstellungen zusammengetroffen ist.

Obwohl es sicherlich nicht möglich ist, eine vollständige Beschreibung und Erklärung der Ereignisse des Dezembers zu geben, sind es einige Aspekte, welche diese Revolte von allen anderen Formen, sozialen Unmut und Dissens auszudrücken, in der jüngeren griechischen Geschichte unterscheidet.

Die Revolte war stark von Gewalt, Straßenkämpfen und Konfrontationen geprägt. Zudem wurde öffentliches wie privates Eigentum zerstört. Diese Vor
gänge hatten zumindest in den ersten Wochen keinen klaren antistaatlichen oder machtkritischen Anspruch, sondern drückten Unmut und Enttäuschung
aus. In diesem Zusammenhang gibt es natürlich wichtige Unterschiede in der Art, wie sich Gewalt oder ziviler Ungehorsam bei unterschiedlichen Akteuren manifestierte.

Die Ereignisse dauerten einen Monat und bahnten sich ausgehend von Athen schnell den Weg nach ganz Griechenland. Sie behielten selbst in kleinen
Städten ihren radikalen Charakter. Das war etwas vorher nie Dagewesenes. Und es war gerade in diesen Orten ein Schock für die griechische Gesellschaft. Obwohl die Leute, die an den Protesten teilgenommen haben, kein homogenes soziales Subjekt konstituieren, kann man festhalten, dass sie gemeinsame Charakteristika ihrer Generation teilten.

Junge Leute (vor allem SchülerInnen, StudentInnen und prekär Beschäftigte) nahmen in unterschiedlicher Art und Weise an den Protesten teil. Die SchülerInnen beispielsweise drückten schwerpunktmäßig anti-repressive Anliegen aus und griffen Polizeistellen und öffentliche Gebäude an, während die StudentInnen, die größere Erfahrungen mit besser organisierten Bewegungen (z.B. durch die Bewegung für den Erhalt der öffentlichen
Bildung) hatten, besonnener handelten.

Ein wichtiger Charakterzug der Revolte war, dass sie nicht von einer organisierten Formation, etwa einer politischen Partei, einer Studierenden-oder ArbeiterInnengewerkschaft oder einer spezifischen sozialen Bewegung geführt wurde. Man muss auch anmerken, dass die griechischen Gewerkschaften mehr oder weniger den Protesten fernblieben, während die Haltung der beiden Hauptparteien der politischen Linken unterschiedlich war. Die Griechische Kommunistische Partei arrangierte mit den anderen Parlamentsparteien (z.B. den Sozialdemokraten und der extremen Rechten) eine Verurteilung der Proteste und organisierte separate Demonstrationen. Die Koalition der radikalen Linken (Syriza) betonte dagegen, wie notwendig es sei, die Revolte als soziales Phänomen zu verstehen. Sie versuchte, den Blick auf die sozialen Ursachen für die Revolte zu lenken.

Vielleicht ist es besonders schwer zu verstehen, wie die Prozesse des neoliberalen Kapitalismus (Privatisierung und weniger öffentliche Räume, Rückzug des Sozialstaates, Zerstörung der Arbeitsbeziehungen usw.) mit einer psychischen Konstitution von Belastung und Angst kombiniert waren. Ein Grund dafür liegt in der Krise des Zwei-Parteien-Systems, das mit Korruption und einem allgemeinen Misstrauen in die politischen Basisinstitutionen drapiert ist. Ein weiterer Grund liegt in dem Gefühl einer ganzen Generation, als erste seit mehreren Jahrzehnten schlechter als die vorhergehende Generation zu leben.

Die unterschiedlichen Gründe mögen auf den ersten Blick ein griechisches Phänomen darstellen. Allerdings ist es durchaus eine potentiell verallgemeinerbare Situation, weil die Bühne des Kampfes der europäische Raum und nicht bloß Griechenland ist. Das erklärt auch die Unsicherheit der politischen Führungen der anderen europäischen Länder wie bspw. in Frankreich und es erklärt die breite Solidarität, welche die Proteste aus anderen europäischen Ländern erfuhren. Die eigentliche gemeinsame Forderung der Dezember-Revolte war das Bedürfnis nach Zugang zu politischen Entscheidungen, sich das Öffentliche nicht nur als öffentliches Gut, sondern als Raum der Vergesellschaftung und Politisierung anzueignen. Die Linke hat auf diesem Feld eine wichtige Rolle zu spielen und es ist entscheidend, dass sie dazu bereit ist.