paradoxiemanagement ist angesagt

Die heutige Linke – ein social justice movement?

Kolja Möller

Spätestens seit den Sozialprotesten 2004 hat sich eine tief greifende Veränderung der gesellschaftlichen Linken vollzogen: Ob gegen die Agenda 2010, bei den Gipfelprotesten in Heiligendamm, bei der Fraktion der LINKEN im Bundestag, bei der Interventionistischen Linken oder in der alltäglichen Durchschnittspraxis: Im Mittelpunkt linker Politik stehen konkrete Forderungen, die aus den Demütigungserfahrungen der Subalternen erwachsen. „Weg mit Hartz IV!“ oder „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ heißen die Slogans. Mithin scheint die gesellschaftliche Linke derjenige Akteur zu sein, der den Erfahrungen der Existenzangst zum Ausdruck verhilft. Die gesellschaftliche Linke ist in ihrer Gesamtheit gegenwärtig eine Bewegung für soziale Gerechtigkeit, ein social justice movement, ein moralisches Mahnmal, das sagt: „So nicht!“ Sie sammelt sich nicht mehr in verrauchten WG-Zimmern, streitet sich nicht mehr um die besten Beziehungskonzepte und sie dürstet auch nicht nach den neuesten Analysen aus der linken Publikationslandschaft.

In einem gewissen Sinne heimelt diese Linke komplett nach-marxistisch an. Denn das Marxsche Projekt einer Gesellschaftskritik, die auch den eigenen Standpunkt in ihre Kritik mit einbezieht bzw. in gesellschaftlichen Verhältnissen denkt, spielt keine Rolle mehr. Man wähnt sich ständig im Recht. Es wird krakelt und rumposaunt. Auf der anderen Seite geht für viele ein Traum in Erfüllung: Sie sehen eine Linke, die den Kontakt zu den „Menschen“ nicht nur behauptet. Und tatsächlich deuten die Mitgliederentwicklung in Teilen der Gewerkschaftsbewegung oder die Wahlerfolge der LINKEN in die hoffnungsvolle Richtung, dass linke Politik aus ihrem Schattendasein heraustreten kann. Diesmal sogar ganz ohne in Regierungsverantwortung den Sozialstaat zu zerstören, sondern gerade aufgrund einer Haltung, die den Demütigungserfahrungen Raum in der Öffentlichkeit sichert. Das verändert die Kodierungen in linken Diskussionen: Die Systemfrage stellt nicht etwa diejenige am treffendsten, die die gründlichste oder „marxistischste“ Kritik am Kapitalismus übt. Eher gelten solche Personen als besonders „systemkritisch“, die am ungeschminktesten und unmittelbarsten die Verletzungen thematisieren, welche die Agenda 2010 und die Weltwirtschaftskrise mit sich bringen.

Dadurch befindet sich die Linke in einer paradoxen Situation: Sie muss gegenwärtig aufs „social justive movement“ setzen und positiv an eine Politik der Unmittelbarkeit anknüpfen. Wenn sie allerdings die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in ihrer Gesamtheit verändern will, dann muss sie mehr sein als ein „bauch“-linkes, moralisches Mahnmal. Dann geht kein Weg an einer Kritik der Gesellschaft, die an den Marxschen Standard anknüpft, an Aufklärung und konzeptionellen Alternativen vorbei. Die Spannungen zwischen einer im weitesten Sinne marxistisch inspirierten Linken und der aktuellen Renaissance der Unmittelbarkeitspolitik müssen offen diskutiert werden. Rhetorische Tricks à la „irgendwie hängt alles mit allem zusammen“ helfen hier auch nicht weiter. Schon subjektiv sind beispielsweise die Lebenswelten und Codes der debattierfreudigen WG-Linken mit Wochenzeitungsabonnement und der emsigen Links-Aktiven zu unterschiedlich. Paradoxiemanagement ist also angesagt: Ansonsten geht die Perspektive eines Emanzipationsprojekts, das über den „Schutzschirm für Menschen“ und mehr Geld fürs Soziale hinausgeht, flöten. Dazu müssen jedoch beide Seiten die Bereitschaft mitbringen, den anderen auszuhalten, und anzuerkennen, dass der jeweils andere etwas mitbringt, was man selbst nicht einbringen kann.