politik des theaters statt theater der politik

Bühne frei für „working poor“

Holger Schmidt

Die Bühne ist leer. Gespannte Stille im Zuschauerraum. Da erhebt sich aus dem Publikum plötzlich eine Stimme: „Ich bin arm. Aber ich schäme mich nicht dafür!“ Die Frau, die das gerufen hat, geht auf die Bühne. Weitere Stimmen aus dem Publikum folgen: „Ich bin froh, dass ich nicht bezahlt werde!“; „Frei für das Leben – Solidarität mit allen Menschen, die sich gegen die Ungerechtigkeit des ALG II wehren!“ Nach und nach stehen immer mehr aus dem Publikum auf und betreten die Bühne. Auf ihr stehen schließlich zwanzig Menschen, die mit prekären Arbeitsverhältnissen konfrontiert sind oder Hartz IV beziehen. So beginnt das partizipatorische Theater-Projekt „Du bist der Fuß! Theater betritt Politik“, das im letzten Jahr im Saalbau Neukölln aufgeführt wurde. Das Legislative Theater Berlin versteht sich als eine Lobby, die Öffentlichkeit für diejenigen herstellt, die aus ihr ausgegrenzt sind, deren Stimmen in den Medien kein Gehör und in der politischen Ordnung keine Repräsentation finden. Kein Theater, das diese Menschen auf der Bühne durch Schauspieler repräsentiert, sondern Theater, in dem die Mitwirkenden ihre Anliegen selbst vertreten, anstatt sich vertreten zu lassen.
Gezeigt werden Szenen aus der sozialen Wirklichkeit der Mitwirkenden. Szenen, wie sie sich tagtäglich in Jobcentern und Behörden, in ungesicherten Arbeitsverhältnissen oder im Alltag von Hartz-IV-Betroffenen ereignen. Es sind Geschichten, die sich hinter den Statistiken verbergen. Ohne das Theater würden sie niemals an die Öffentlichkeit dringen.
Die Idee zu diesem Projekt hatten die Theatermacher Harald Hahn und Jens Clausen, die beide über langjährige Erfahrungen mit politischem Theater verfügen. Ausgegangen sind sie immer von möglichst konkreten Situationen des gesellschaftlichen Lebens, in denen Macht- und Ohnmachtserfahrungen deutlich werden, die verändert werden sollen. Gemeinsam mit den Mitwirkenden haben sie diese Situationen zu kurzen Szenen verdichtet. So werden Ursachen und Dynamiken, die den jeweiligen Konflikt bestimmen, aber auch die Haltungen, Gesten und Tonfälle der Protagonisten, herausgearbeitet. Im Idealfall ist ein solches Theater ein Laboratorium zur praktisch-experimentellen Untersuchung von sozialen Prozessen, in dem auch subtile Machtformen aufgedeckt werden können. Aus diesem intensiven Probenprozess resultieren dann Szenen wie die folgende:
Drei Frauen sitzen in einem Callcenter, ausgestattet mit Kopfhörern und Mikrophon: „Guten Tag! Ja richtig, 34,95 Euro – die lustigste Flatrate der Stadt!“ Die Chefin weiß, wie sie den Laden am Laufen hält: „Ihr Erfolg ist auch unser Erfolg! Motivation ist alles!“ Eine Mischung aus sanfter Gewalt und unterschwelligen Drohungen. Sie kennt die Schwächen ihrer Angestellten, weiß genau, wo jede von ihnen zu packen ist. Wer nicht funktioniert, wird zum Einzelgespräch gebeten: „Sie wollen doch eine Festanstellung. Dafür brauchen Sie aber noch mindestens fünf Abschlüsse bis Ende der Woche. Sonst kann ich wirklich nichts für Sie tun. Denken Sie an Ihre Tochter!“. Selbstredend wird es zu der ständig in Aussicht gestellten Festanstellung nie kommen. Rechtliche Nachfragen zum Vertragsverhältnis werden abgebügelt. Schließlich reicht es einer der Frauen: „Das können wir uns doch nicht gefallen lassen!“ Aber was tun? Die drei Frauen bleiben ratlos zurück.
Hier unterbricht der Spielleiter Harald Hahn die Szene und befragt das Publikum: „Ist die Szene realistisch? Haben Sie Ähnliches erlebt? Was könnte man in dieser Situation tun?“ Die Szenen werden aber nicht nur vom Publikum diskutiert. Wer möchte, kann dann auf die Bühne kommen und eine der Rollen übernehmen, die dann erneut gespielt wird. In jeder Wiederholung der Szene werden so neue Facetten der Situation deutlich und Möglichkeiten eines widerständigen Handelns durchgespielt. Dabei ist es für jeden, der einmal an einem solchen Projekt teilgenommen hat, immer wieder verblüffend, wie sehr sich eine Situation verändert, wenn die Rolle des distanziert Beobachtenden durch die des involviert Handelnden getauscht wird. Zu diesem hochbrisanten, kraftvollen Abend, der oft von Applaus, Zwischenrufen und engagierten Beiträgen unterbrochen wird, sind auch Gäste eingeladen: Abgeordnete werden zwischen den Szenen ebenfalls auf die Bühne gebeten, um diese Szenen zu bewerten und um Stellung zu beziehen, wie die Situation durch Gesetzesinitiativen verbessert werden könnte. Im Idealfall entstehen aus solchen Theaterprojekten spontan politische Netzwerke, in denen sich die Betroffenen selbst organisieren.
Das Legislative Theater gehört zu den zahlreichen Theaterformen, mit denen der brasilianische Theatermacher Augusto Boal seit den 1960er Jahren experimentierte und die mittlerweile von zahlreichen Gruppen auf der ganzen Welt, unter unterschiedlichen sozialen und politischen Bedingungen, praktiziert werden.
Grundidee des Theater Boals ist die Aufhebung der Trennung von Zuschauenden und Akteuren, womit er die Befreiung des Zuschauenden aus der passiven Rolle im Theater wie in der Gesellschaft intendierte. Damit kritisierte Boal nicht nur das bürgerliche Theater, sondern zugleich auch die autoritäre Struktur politischer Repräsentationen. Mittlerweile gibt es auch in Europa immer mehr Theatergruppen, die das Theater Boals weiterentwickelt haben und damit in ganz unterschiedliche Praxisfelder intervenieren. Denn zum Tragen kommt dieses Theater überall dort, wo Menschen ihre Bevormundung, Entwürdigung und Unterdrückung nicht mehr passiv hinnehmen wollen und sich dazu entschließen, sich zur Wehr zu setzen.

Kontakt zum Legislativen Theater Berlin gibt es unter www.theateroftheoppressed.org[1] bzw. über: mail@legislatives-theater.de[2].


Links:

  1. http://www.theateroftheoppressed.org/
  2. mail@legislatives-theater.de