Gefühl des Nicht-Einverstanden-Seins

Marcus Wiebusch, Sänger der Band „Kettcar“, im Interview mit prager frühling

prager frühling: Du hast vor kurzem mit „Kettcar“ das neue Album „Sylt“ herausgebracht. Wie würdest du das hinter „Sylt“ stehende Lebensgefühl beschreiben?

Marcus Wiebusch: Hinter dem Album „Sylt“ in seiner Gesamtheit steht kein Lebensgefühl. Wir finden es Quatsch, von Alben zu erwarten, dass sie ein Lebensgefühl widerspiegeln sollen. Unter anderem liegt das daran, dass wir extrem unterschiedliche Songs schreiben wollen, die sich nicht unter ein „Lebensgefühl“ subsumieren lassen. Wenn es überhaupt einen gemeinsamen Nenner gibt, dann den, dass es uns bei Sylt darum ging, Geschichten zu transportieren, die davon handeln, dass etwas nicht stimmt. Dass man nicht einverstanden ist mit dem, wie es ist. Uns ist von verschiedenen Seiten gesagt worden, dass das Album wohl deshalb recht „düster“ geraten ist. Aber ich würde eher das Wort „realitätsnah“ wählen.

pf: Einige Songs, etwa „Kein Außen mehr“, „Würde“ oder „Geringfügig, befristet, raus“, sind ja auch politisch recht eindeutig...

Wiebusch: Es geht bei diesen Songs darum zu zeigen, dass etwas nicht stimmt. Zum Beispiel erzähle ich in „Würde“ die Geschichte von dem Erwachsenen, der wieder zu Hause bei seinen Eltern einzieht, weil er den Anforderungen von Arbeitswelt, Freizeit und Alltag nicht gewachsen ist. Das fußt auf der Tatsache, dass heute, häufiger als vor zehn Jahren, Menschen ausgebrannt wieder zu ihren Eltern ziehen. Ich habe etwas gelesen über den Zusammenhang von neoliberalen Zumutungen und Burnout-Syndrom, steigenden Depressionsraten bei steigenden Flexibilisierungsanforderungen. Auf diesem Boden agiert der Protagonist in dem Song. Dass diese Protagonisten nicht mehr das wirkliche „Ich“ sind, ist sicherlich auch das Neue an dem neuen Kettcar-Album. Das Konzept des authentischen Ichs halte ich in der Kunst sowieso für restlos überbewertet.

pf: Du hast die „neoliberalen Zumutungen“ kritisiert. Spürst du als Künstler diese Zumutungen auch in deinem Arbeitsalltag?

Wiebusch: Natürlich. Bei mir kommt hinzu, dass ich, für die völlige Kontrolle über meine Kunst, ein eigenes Label gegründet habe. Die Anforderungen sind schon hoch; höher als bei Künstlern, die sich vielleicht in ihr Subventionstheater zurückziehen können. Aber das ist bei dem relativen Erfolg, den Kettcar haben, Jammern auf hohem Niveau. Ich könnte mir eine Auszeit von ein paar Monaten nehmen, und ich und meine Familie würden nicht verhungern. In meinem Künstlerfreundeskreis bekommt man aber schon mit, wie hart es sein kann, wenn man sich ganz der Kunst verschreiben will und gleichzeitig dafür sorgen muss, dass der Kühlschrank voll ist.

pf: Deine frühere Band „...but alive“ hatte ja sehr direkte linke politische Aussagen, in ihren Songtexten, durch das Publikum. Wie würdest du heute dein Verhältnis als Künstler zur Politik beschreiben? Welche Rolle spielt Politik heute in deiner Musik?

Wiebusch: Die ersten drei „...but alive“-Platten waren von zwei Sachen geprägt: Zum einen dadurch, dass ich mit flammendem Herzen, großer Wut und einem gehörigen Moralismus ein Gefühl versucht habe zu transportieren, wonach es mehr als diesen Zustand geben sollte. Dass es eine bessere Welt geben muss. Und zum anderen waren die Themen der Songs eine Antwort auf den Zeitgeist Anfang und Mitte der 90er. Stichwort: Rechtsruck, Asyldebatte usw., aber auch linke Grabenkämpfe.
Mit diesen Songs war ich Ende der 90er an einem Endpunkt angelangt. Zum einen, weil ich dieses flammende Herz, diesen Moralismus, nicht mehr hatte und natürlich auch, weil sich der Zeitgeist geändert hatte. Ich hätte 1999/2000 nicht mehr „Nur Idioten brauchen Führer“ spielen können. Ich habe Ende der 90er überhaupt keinen Punk mehr gehört, sondern fast nur Singer/Songwriter-Sachen. Es blieb nur die Auflösung. Mit einer völlig anderen Intention habe ich noch einmal von vorn angefangen und Kettcar gegründet. Selbstverständlich war ich aber immer noch ein politisch denkender und handelnder Mensch. Kettcar haben seit ihrer Gründung auch immer sehr deutlich gezeigt, wo wir stehen und wofür wir uns engagieren. Nur hatte ich keine Lust, diese Haltung weiterhin in Songs zu transportieren. Das habe ich jahrelang gemacht. So sind die ersten beiden Kettcar-Alben entstanden. Mit dem neuen Album von Kettcar habe ich versucht, diesem Gefühl des Nicht-Einverstanden-Seins Ausdruck zu verleihen, indem ich Songs schreibe, die Geschichten transportieren, in denen die Protagonisten eben das erleben, was sie erleben. Das ist frei von jeder Art von Zeigefinger oder Moralismus. Es werden keine Forderungen aufgestellt. Man könnte sie ableiten, aber das ist nicht unsere Aufgabe. Wir sind keine Politiker, die auf Zuruf Forderungskataloge als Antwort auf die Probleme unserer Zeit aus der Tasche ziehen. Vielmehr finden wir es spannend, mit den bescheidenen Mitteln unserer relativen Popularität einen Zeitgeist zu befeuern – dass bestimmte Fragen aufs Plateau kommen: Muss es so sein? Wollen wir so leben? Und wenn wir so leben wollen, denken wir die Verlierer mit? Wie könnten wir anders leben? Und die Hoffnung, die sich dann natürlich anschließt, ist: Wenn sich mehr und mehr Leute diese Fragen stellen, und mit Herz und Hirn an der Beantwortung der Fragen arbeiten, ist eine bessere Welt für alle möglich. In meinen zynischen Momenten weiß ich natürlich, dass diese Hoffnung Quatsch ist. In meinen nicht-zynischen Momenten denke ich, dass diese Hoffnung in einer Utopie münden könnte, die zwingend zum Linkssein dazu gehört.

pf: Vielen Dank für das Gespräch.