Griffelspitzer und Studentenköppe?

Organische Intellektuelle und ihre Bedeutung für die Linke

Christina Kaindl

Das Verhältnis zwischen Leuten, die sich viel mit Theorie beschäftigen und solchen, die sich als Praktiker verstehen, war in der Linken noch nie einfach. Das ist zunächst mal eine gute Sache: nur autoritäre Bewegungen brauchen sich um das Verhältnis von Theorie und Praxis, Analyse und Vermittlung, keine Sorgen zu machen, da sie als Verhältnis von Führung (im emphatischen, herrschaftlichen Sinne) und Geführten oft schon gesetzt ist. Andererseits stellt dieses Verhältnis ein zentrales Problem für die Linke dar: auf welche Analyse beruft sich ihre Gesellschaftskritik, ab wann wird der Streit um die Analyse zum Selbstzweck, wo werden Eitelkeiten ausgetragen, die verändernde Praxis hemmen, wo wird die Kritik der Kopflastigkeit genutzt, um bestimmte „Köpfe“ zu delegitimieren – Tucholsky schrieb etwa gegen solche Intellektuellenkritik: „Nichts verächtlicher, als wenn Literaten Literaten Literaten nennen“ (1) –, wo geht es also gar nicht zuvorderst um Praxis gegen Theorie, sondern um verschiedene Konzeptionen und die Hegemonie in „der Bewegung“ oder „der Partei“?

Die „Kopfflechter des Kapitals“, der „Typ des deutschen Professors“, der die soziale Wirklichkeit zerpflückt, bis ihre Zusammenhänge endgültig zerrissen sind, waren Gegenstand von Marx’ Kritik und Ironie, ebenso wie der „Lorianismus“, die intellektuelle Schaumschlägerei bei Gramsci (und die TUIs bei Brecht). Dabei geht es beiden nicht um eine Abkehr von wissenschaftlichem Denken oder Analysen. Den Lorianismus kennzeichnet gerade ein „Mangel an systematisch kritischem Geist, Nachlässigkeit bei der Ausübung der wissenschaftlichen Tätigkeit.“ (2) In der Feindschaft der Proletarier gegenüber den Intellektuellen lag einerseits der Versuch der Wiederaneignung der Repräsentation, andererseits war sie ein Festschreiben der eigenen Marginalisierung – wie etwa Paul Willis’ Studie über die Arbeiterjugendlichen dokumentiert, die in den 1970er Jahren mit dem Intellektuellenhass die Revolte gegen die Institution Schule, das Lernen insgesamt, „verweichlichte“ Männlichkeit, Homosexualität und Migranten verbanden und die eigene Identität des körperlich potenten „wahren Männer“ dagegen gesetzt haben. (3)

Antonio Gramsci: Organische Intellektuelle

Die wenigsten, die sich heute in der linken Diskussion tummeln, tun dies ohne intellektuellen Hintergrund. Und selbst die, die sich nicht als solche verstehen, sind nach Gramscis Verständnis meist trotzdem welche: Gramsci bestimmt die Intellektuellen nicht formal, nach ihrem Bildungsabschluss oder (allein) ihrer Stellung in der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, sondern nach ihrer gesellschaftlichen Funktion: „Denken ist ein Tun, das den Zement der herrschenden Verhältnisse ebenso auflösen wie festigen kann.“ (4) Nicht also die soziale Herkunft der einzelnen Intellektuellen ist entscheidend, sondern ihre organisierende Tätigkeit. „Organisch“ heißen bei ihm diejenigen Intellektuellen, die an der Ausarbeitung einer bestimmten „Kultur“, einer „neuen intellektuellen und moralischen Ordnung “ (5), zunächst der herrschenden, beteiligt sind. Sie arbeiten die Hegemonie der herrschenden Gruppen aus, indem sie subalterne Gruppen einzubinden versuchen. Und diese Funktion erfüllen nicht nur die „großen“ Intellektuellen, die den jeweiligen „Geist des Kapitalismus“ ausarbeiten, die großen Würfe und Begriffe prägen, sondern auch die „kleinen“, die die herrschaftlichen Anforderungen übersetzen und lebbar machen: Sozialarbeiter, Lehrerinnen, Medien usw.

Aber Gramscis „organische Intellektuelle“ gibt es nicht allein als solche des Kapitals, sondern sie sind Aufgabe für die emanzipatorischen Bewegungen: Wenn sie es nicht vermögen, die Funktionen organischer Intellektueller – auf allen „Ebenen“, also von den wissenschaftlichen Analysen bis zur Übersetzung und Ausarbeitung in den alltäglichen Kämpfen – zu füllen, bleiben die Bewegungen so stumpf wie die Arbeit möglicherweise kluger Köpfe isoliert. Auch hier ergibt sich ihr Charakter als „organische“ Intellektuelle aus der organisierenden, klassenbezogenen Tätigkeit. Eine Organisation ohne Intellektuelle kann es nach Gramsci gar nicht geben. Die Gegenüberstellung von „Intellektuellen“ und „Einfachen“ wird in dem Maße brüchig, wie es gelingt, „immer breitere Volksschichten intellektuell zu heben, [indem] Eliten von Intellektuellen eines neuen Typs“ gebildet werden, „die direkt aus der Masse hervorgehen und gleichwohl mit ihr in Kontakt bleiben.“ (6) Die Hervorbringung einer solchen „Massenintellektualität“ ist keine kleine Aufgabe. Sie ist aber Voraussetzung für die Entstehung eines „historischen Blocks“. So bezeichnet Gramsci, wenn es zu einem „repräsentativen Verhältnis“ zwischen Regierenden und Regierten, Intellektuellen und „Volk/Nation“ kommt, „wobei Gefühl und Leidenschaft zu Verständnis und folglich zu Wissen wird.“ (7) Und erst dann ist eine Bewegung oder Partei (potenziell) hegemoniefähig.

Michel Foucault: spezifische Intellektuelle

Foucault analysiert die Rolle der Wissenschaften (vom Individuum) für die neuen Herrschaftsformen. Sie arbeiten die Denkformen des „Individuums“ aus und produzieren mit dem Wissen über die Einzelnen ihre Regierbarkeit. Die Intellektuellen fänden ihre Arbeit nicht mehr „im Universalen, im Beispielgebenden, im Wahren-und-Gerechten für alle“ (8), sondern in den konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen. Basaglia, der italienische Vordenker der Antipsychiatriebewegung hatte von den „Befriedungsverbreche(r)n“ (9) der Sozialwissenschaften, konkret der Psychologie/Psychologen und Psychiatrie/Psychiatern gesprochen, die das Leiden der Menschen an den Verhältnissen in verwissenschaftlichte und institutionalisierte „Behandlungen“ übersetzten, die gesellschaftliche Probleme und Pathologien in individuelle transformierten. Foucault sieht eine Perspektive im „Aufstand des ‚unterworfenen Wissens’“, indem die spezifischen Intellektuellen ihr Wissen zur Entwicklung einer „lokalen Kritik“ nutzten. Von hier aus denkt er – wenn auch recht zurückgenommen – die Vernetzung der lokalen Kritiken, ihre gegenseitige Politisierung zu einer neuen, globalisierten Strategie.

Leidenschaftlicher Streit um Erkenntnis

Für die Linke ist eine nicht-administrativ regulierte Diskussion und ein Klima der Intellektualität – im Sinne des leidenschaftlichen Streits um Erkenntnis – entscheidend. Schließlich sind die zentralen Fragen und Herausforderungen noch nicht einmal im Ansatz – und auch nur theoretisch – gelöst: wie lässt sich Solidarität auf Weltniveau denken, was bedeutet Adornos Herausforderung, „dass niemand mehr hungern müsste“ (10) für eine aktuelle Realpolitik, wie lassen sich Freiheit und Gleichheit vereinbaren und auf eine verlässliche materielle Basis stellen usw. „Wer die Wissenschaft einem ihr fremden, äußerlichen Interesse zu akkomodieren sucht [...] nenne ich gemein“ (11) so Marx. Dies liest sich einerseits als Aufruf zu einer Wissenschaft, die ihre Erkenntnismöglichkeiten nicht auf die herrschaftlich zugestandenen Wege beschränken lässt, sondern deren Parteilichkeit gegen die herrschenden Verhältnisse mit einem weiter reichenden Erkenntnisanspruch verbunden ist.

Eine theoretische Debatte, die isoliert von den praktischen Erfahrungen und damit ohne Einsicht in die Kräfteverhältnisse stattfindet, ist stumpf und mag dem „spontanen Anarchismus“ (Lenin) verfallen oder hoffnungslos diesseitig sein.

Gleichzeitig aber kann Erkenntnis – „radikale“, an die gesellschaftlichen Wurzeln gehende Theorie und Praxis – sich nicht in den Grenzen entfalten, die der Logik der Tagespolitik folgen. Die Revolution steht nicht bevor, die entscheidende Schlacht wird nicht morgen ausgefochten. Wohl aber liegt eine Geschichte hinter uns, in der die linken Bewegungen in verschiedenen Sackgassen zum Stillstand gebracht wurden (nicht alle, aber doch einige davon waren selbstverschuldet). Um in Bewegung zu bleiben, bedarf die Linke einer „revolutionären Realpolitik“ (Luxemburg), die an den Interessen der Menschen ansetzt und sie gegen herrschaftliche Zumutungen verteidigt. Gleichzeitig aber bedarf es einer theoretischen Reflexion, wo Realpolitik die Grenzen nicht weit genug voran treibt und welche verallgemeinerten Interessen sie nicht aufheben kann.

Die Linke tut gut daran, sich zu rüsten mit rücksichtslosen Analysen und der Entwicklung einer Perspektive der Befreiung, die heute noch keinen Ort haben mag, aber doch so viele Menschen überzeugen muss, dass sie gemeinsam diesen Ort schaffen wollen. Dafür bedarf sie aller Intelligenz, praktischer Erfahrung, Theorie und Praxis. Denn „nicht das ‚Denken’, sondern das, was wirklich gedacht wird, vereint oder unterscheidet die Menschen.“ (12)

1 Kurt Tucholsky, Ausgewählte Werke Bd.6, 1932, 480.
2 Antonio Gramsci, Gefängnishefte, kritische Gesamtausgabe, hg. v. Klaus Borchmann/Wolfgang Fritz‐Haug (Hamburg 1991ff.), Heft 28, 2223.
3 Paul Willis, Spaß am Widerstand, 1979, Frankfurt am Main.
4 Alex Demirovic und Peter Jehle, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 5.2, hg.v. W.F. Haug, 1280.
5 Gramsci, Gefängnishefte, H.11, §12, 1377.
6 Gramsci, Gefängnishefte, H.11, 1390.
7 Gramsci, Gefängnishefte, H.4, §33.
8 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France 1975-76, 1999 Frankfurt/M, 14f..
9 Franco Basaglia und Franca Basaglia-Ongaro, Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen, 1980, Frankfurt am Main.
10 Theodor W. Adorno, Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigen Leben, 1951, Frankfurt am Main, 206.
11 „Einen Menschen aber, der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst [...], sondern von außen, ihr fremden, äußerlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu akkomodieren sucht, nenne ich ‚gemein’“ (MEW 26.2, 112). Aus Anpassung an das „Sonderinteresse bestehender herrschender Klassen oder Klassenfraktionen [...] verfälscht er seine wissenschaftlichen Schlussfolgerungen. Das ist seine wissenschaftliche Gemeinheit, seine Sünde gegen die Wissenschaft.“ (Ebd., 113).
12 Gramsci, Gefängnishefte, H.7, 891.