Von Bürzeln, Nanas und Gewehren

Revolution in der Kunst – Revolution in der Politik

Christoph Spehr

Die Revolution begann mit einem Entenbürzel. 1961 stellte der bis dahin weitgehend unbekannte Roy Liechtenstein in Leo Castellis Wohnzimmergalerie in New York aus und präsentierte das erste seiner Comic-Bilder: „Look Mickey“, die großformatige Nachzeichnung einer Szene mit Micky Maus und Donald Duck, der beim Angeln seinen eigenen Hintern fängt. Damit brachte es die Pop Art zum Durchbruch. Andy Warhol gründete um dieselbe Zeit die „Factory“ in Manhattan, eine Mischung aus Atelier, offener Wohngemeinschaft, kollektiver Kreativwerkstatt und Partyraum, und setzte mit seinen Siebdrucken nach Zeitungsbildern ein ähnlich radikales Zeichen.

Wilde Jahre

Es war eine klassische Revolution in der Kunst. Das, was jetzt auf die Leinwand kam, wäre zehn Jahre früher gar nicht als Kunst durchgegangen. Die neue zentrale Regel war eine, die kurz vorher explizit als künstlerisch verboten galt: „Zeigen, was gezeigt wird“, wie es der deutsche „Sound-Poet“ Nicolaus Einhorn später nannte. Das in den Mittelpunkt stellen, was um uns herum unsere Wahrnehmung bestimmt: Werbung, Tageszeitungen, billige Massendruckwerke, die soundsovielte Reproduktion einer Reproduktion eines Bildes oder einer Zeile, die ein Icon geworden ist, ein Bildsymbol, in dem sich ein Unterbewusstsein bündelt, das in neuer Weise kollektiv geworden ist.

Es waren wilde Jahre. Niki de Saint Phalle machte ihre „Schussbilder“, indem sie mit dem Gewehr auf Leinwände schoss, auf denen sie Farbbeutel befestigt und mit Putz überzogen hatte – bevor sie einige Jahre später mit den „Nanas“ die feministische Variante der Pop Art erfand: bunt, grell, aber um Identität bemüht, nicht um ihre Auslöschung. John Cage schrieb ein Stück für ein Klavier, das einen Minenschacht herunterstürzen und unten aufschlagen sollte. Claus Peymann inszenierte in Frankfurt Handkes „Publikumsbeschimpfung“. Viel Aggressivität, viel Gewalt, viel Farbe, viel Auffallen: darum ging es. Um eine Kunst, die so war wie Rock’n’Roll: eingängig, direkt, ohne die Vermittlung von akademischen Exegeten. Eine Kunst, die nicht weniger behauptete als: Was bis vor kurzem im etablierten Kunstbetrieb stattfand, ist keine Kunst, sondern eine bürgerliche Lüge, die nichts zu tun hat mit dem heutigen Leben und der heutigen Gesellschaft.

Die Revolution kam später

Die Politik kam später. Erst mit dem weltweiten Revolutionszyklus der späten 60er Jahre begann eine „Politisierung der Kunst“ im engeren Sinne, eine Auseinandersetzung zwischen radikaler Kunst und politischer Bewegung, die für die 70er Jahre prägend wurde. Beuys entwickelte seine Idee der „sozialen Plastik“ und diskutierte auf der documenta 6 mit Rudi Dutschke. Beide standen zu jenem Zeitpunkt in engem Kontakt wirkten auf die Gründung der Grünen mit ein. In der Literatur entstanden die Klassiker der feministisch-sozialistischen Science-Fiction wie Ursula LeGuins „Planet der Habenichtse“, die sich intensiv mit Gesellschaftsutopien und den widersprüchlichen Erfahrungen der revolutionären Jahre befassten.

Es ist ein Muster, das sich wiederholt. Auch dem Revolutionszyklus der Jahre von 1905 bis 1919 geht eine Revolution in der Kunst voraus, in der das in den Mittelpunkt rückt, was vorher verboten war. Kandinsky und Malewitsch erfinden die abstrakte Malerei, der Expressionismus sucht den „Zeitgeist“ in wilden, breiten Strichen, die Surrealisten entdecken die Realität des Unbewussten, Duchamp und die Dadaisten machen Kunst zu einem Ort der Ironie, des Humors und des Absurden. Wie in den 60ern wird die Revolution in der Kunst unmittelbar in der Werbung aufgegriffen. Sie beruft sich auf einen veränderten Realitätsbegriff: Was die technische Reproduktion der Pop Art, sind dem Surrealismus die amorphen inneren Landschaften Freuds. Was in der etablierten Hochkultur stattfindet, hat mit dem Leben und der Zeit nichts zu tun und wird verworfen. Was die Menschen erleben und was sie beschäftigt, wird von der bürgerlichen Hegemonie ignoriert, verdrängt, abgewehrt, weshalb die künstlerische Befreiung ein gewaltförmiger Akt ist: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“, schreibt Kafka in einem Brief an den Freund und Kulturhistoriker Oskar Pollak.

Abgebrochene Liaisons

Die kulturelle Revolution geht einher mit der Überschreitung des eurozentrischen Blicks: Wie Warhol in den 70ern den jungen Jean-Michel Basquiat entdeckt und zum ersten Afro-Amerikaner macht, der ein internationaler Star der bildenden Kunst wird, importierte Picasso zu Anfang des Jahrhunderts Darstellungsformen der afrikanischen Kunst, um den Naturalismus zu zerschlagen und den Kubismus zum neuen Mainstream zu machen. Ebenso geht die kulturelle Revolution einher mit einer Aufwertung der populären Kultur, den kulturellen Produkten der Straße und breiter Schichten der Bevölkerung: Zeitungen, „Groschenhefte“, Comics, Graffiti, Wandmalereien, Plakate. Als Marx und Engels am Kommunistischen Manifest arbeiteten – im Revolutionsjahr 1848 – begründete gerade Edgar Allan Poe den Kriminalroman, die Science-Fiction und das moderne Horrorgenre.
Auch hier kam die Politik später. Die Politisierung der Kunst vollzog sich nach den Revolutionen von 1917, 1918 und 1919, als aus dem Anarchisten Bert Brecht der Begründer des epischen Theaters wurde. Die enge Liaison zwischen radikaler Kunst und radikaler Politik fand ihren Höhepunkt in der gemeinsamen internationalen Mobilisierung für die republikanische Seite im Spanischen Bürgerkrieg 1936-1938. Danach brach sie wieder ab, auseinandergetrieben von der stalinistischen Repression, der falschen Indienstnahme der Kunst für politische Machtansprüche, der unhaltbaren Andienung an politische Selbstdarstellung. Die Konstruktivisten in der Sowjetunion unterwarfen sich oder wurden verurteilt, kommunistische Künstler scheiterten weltweit am Versuch einer „sozialistischen Kunst“. Oder aber sie ließen es lieber bleiben und besannen sich auf die Eigenständigkeit beider Welten. Baudelaire nahm teil an der Revolution von 1848, dann ging er nach Hause und schrieb erst mal die „Fleurs du Mal“.

Und noch eine weitere Gemeinsamkeit gibt es. Am Anfang der künstlerischen Revolution stehen kollektive Szenen, in denen Frauen eine mindestens so gewichtige Rolle spielen wie Männer. Mit dem Durchbruch zum neuen Mainstream treten die Männer ins Rampenlicht, die kollektiven Strukturen zerbrechen, und die Frauen setzen sich ab und gehen ihrer eigenen Wege, wenn sie nicht unter die Räder kommen und zerbrechen wollen. So war es mit den Frauen der surrealistischen Szene – Simone Breton, Gala Eluard, Elsa Triolet, Dorothea Tanning –, so war es mit den Künstlerinnen, die aus den Szenen der 60er Jahre ausstiegen und ihren eigenen Weg gingen – Doris Lessing, Joanna Russ, Barbara Kruger und viele andere. Wie heute in der Musik und im Film, entschieden viele sich dafür, Produzentinnen zu werden und Produktionsmittel zu kontrollieren: Galerien, Museen, Lokale, Produktionsfirmen.

Was genau lernen wir daraus?

Erstens: Es gibt keine Revolution ohne die Gleichzeitigkeit von künstlerischer und politischer Revolution. Zweitens: Beide funktionieren vollkommen eigenständig. Sie inspirieren sich gegenseitig, treten ab einem bestimmten Zeitpunkt in einen intensiven Dialog, aber sie fallen nicht zusammen, sie passen nicht in ein und dieselbe Matrix. Der Versuch, die kulturelle Revolution „abzuleiten“, einzuordnen und zu zensieren, treibt beide regelmäßig wieder auseinander. Drittens: Der kreative Kontakt vollzieht sich über Personen. In allen historischen Umbruchphasen gibt es rege personelle Kontakte zwischen beiden Szenen, Überschneidungen, Freundschaften, Doppelmitgliedschaften, in denen die Brüche zwischen beiden Zugangsweisen zur Revolution ausgehalten werden, nicht eingeebnet, sondern respektiert werden. Viertens: Diejenigen, die „verletzbaren“ Gruppen angehören (Frauen, MigrantInnen, Menschen ohne bürgerlichen Hintergrund und Vernetzung) tun gut daran, das kreative Klima und die kollektiven Strukturen zu nutzen, sich aber sehr rechtzeitig auf sich selbst zu besinnen und sich um ihre Unabhängigkeit auch von den Szenen zu kümmern, denn der revolutionäre Aufbruch wird erstens nicht von Dauer sein und zweitens seine patriarchal-autoritären Züge eher deutlicher entwickeln als abbauen, je mehr er Erfolg hat.
Und fünftens: Wer unter sich bleibt, kommt nicht weiter. Die Eigenständigkeit des Zugriffs, den Politik und Kunst jeweils haben, bedingt auch eine eigenständige Ignoranz, eine spezifische Blindheit und Einäugigkeit. Im personellen Kontakt, in der engen Auseinandersetzung und Überschneidung, in der gegenseitigen Aufklärung und Inspiration entsteht die Sprengkraft, ohne die man die herrschenden Verhältnisse nicht hochjagen kann. Man kann natürlich unter sich bleiben, sich nicht verunsichern lassen und immer recht haben. Aber eigentlich geht es ja um mehr.