für vaterlandslosigkeit

Thesen der Redaktion zu Nation und Nationalismus

Die Redaktion

1. Der Nationalstaat und seine ideologische Begleitmusik – der Nationalismus – waren und sind ein bürgerliches Projekt: Die bürgerlich-republikanische Linke des 18. und 19. Jahrhunderts kämpfte an der Seite der bürgerlichen Klasse, um soziale und demokratische Fortschritte im Rahmen des Nationalstaates zu erringen; nicht, weil alle „Deutschen“ durch gemeinsames Blut miteinander verbunden sind oder weil alle „Franzosen“ die Demokratie in ganz besonders zivilisierter Weise zu praktizieren wissen. Sie unterstützten diesen Kampf der bürgerlichen Klasse, weil die Herausbildung einer Nation zum damaligen Zeitpunkt einen Fortschritt gegenüber der ständisch-feudalen Ordnung darstellte. Der linken Bewegung ist es dabei gelungen, demokratische und soziale Fortschritte innerhalb des Nationalstaats zu erringen. Er war über Jahrzehnte der politische Bezugsrahmen auch linker Politik. Dort, wo die Linke allerdings nationale Identität dauerhaft über ihr universelles Befreiungsprojekt hat gewähren lassen und selbst „Nation“ wurde, ist sie entweder sozialdemokratische (Deutschland 1914), stalinistisch (Sowjetunion) oder despotisch (nationale Befreiungsbewegungen) geworden.

2. Schon Karl Marx wusste: „Die Arbeiter haben kein Vaterland.“1 Die Grenzen verlaufen nicht zwischen nationaler Zugehörigkeit, sondern zwischen Klassen. Nation und Nationalismus sind kein linkes Projekt. Diese Feststellung entbindet allerdings nicht von der Verantwortung sich konkret mit „nation-building“ oder auch neueren Phänomenen des Staatszerfalls zu beschäftigen. Doch angesichts einer Globalisierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse erscheint es zunehmend fraglich, ob der Nationalstaat weiterhin das privilegierte Terrain politischer Auseinandersetzung darstellt. Die Begrenzung auf den Handlungsrahmen Nationalstaat entspricht einfach nicht dem Stand der Produktionsverhältnisse: Der Linken muss es heute darum gehen, individuelle Menschenrechte – formale und soziale – im globalen Maßstab zu erstreiten. Denn: auf die Globalisierung der Wirtschaft muss eine Globalisierung der sozialen Kämpfe folgen. Die Linke sollte sich auf diese Entwicklung positiv beziehen, indem sie diese Prozesse begleitet und nutzt, um internationale Regeln (Arbeitsschutz- oder Umweltschutz, Steuerpolitik, Menschenrechte, etc.) durchzusetzen.

3. Nationalismus ist die Ideologie des Nationalstaats. Er modelliert die Bewohnerinnen und Bewohner eines Territoriums als Schicksalsgemeinschaft und setzt sie in Konkurrenzverhältnisse zu anderen „Nationen“: Die Konstruktion der Nation ist der ideologische Kitt der bürgerlichen Gesellschaft. In ihr werden soziale und kulturelle Gegensätze homogenisiert. Durch Abgrenzung nach Außen wird der innere Zusammenhalt geschaffen, der die widersprüchliche bürgerliche Gesellschaft zusammenhält. Heutzutage ist dabei insbesondere ein völkischer Nationalismus der Rechten von einem Standortnationalismus zu unterscheiden. Der Standortnationalismus ist dadurch geprägt, dass er die Nation zu einer kulturell halbwegs offenen Leistungs- und Wettbewerbsgemeinschaft uminterpretiert, die sich anderen Standorten im Wettbewerb zu stellen hätten. Die Kulisse des ständigen Standortwettbewerbs verstärkt eine Sachzwanglogik, die politische Alternativen scheinbar ausschließt, und entfaltet somit eine demokratiedemontierende Wirkung.

4. Gerade für diejenigen Linken, die sich im politischen System, in Parteien und Parlamenten engagieren, stellt sich die Frage, wie damit umzugehen ist, dass das gesellschaftliche Leben und das politische System das Bekenntnis zur Nation, zur Region, zur Heimat oder zur örtlichen engagierten Bürgerschaft voraussetzen. Die Bevölkerung hat einen starken Bezug auf ihren Lebensort, auf ihre Region bzw. auf die BRD und erwartet, dass die Politik ihre Interessen zur Geltung bringt: Etwa, wenn es darum geht Investoren anzuziehen. Die Linke muss klar Position gegen nationalen Romantizismus, Heimattümelei, Standortchauvinismus und dergleichen beziehen. In diesem Sinne ist sie antinational. Eine Linke, die aber im positiven Sinne „popular“ sein will, braucht einen Ansatz dafür, wie ihre Politik nicht standortchauvinistisch wird. Sie muss alternative Konzepte der Identitätsbildung anbieten, um der Hegemonie nationaler, regionaler oder heimatbezogener Zugehörigkeit etwas entgegenzusetzen.

5. Das Angebot der sozialistischen Weltbewegung ist in dieser Hinsicht weiterhin schlagend: Demnach stellt sich Identität nicht über Blut, Herkunft oder Sprache her, sondern darüber, Teil einer globalen Bewegung für Emanzipation zu sein. Genauso wie die sozialistische Bewegung nicht selten selbst „nationalistisch“ geworden ist, genauso gab und gibt es immer wieder Ansatzpunkte für das Projekt einer globalen Linken: Sei es in den wenigen lichten Momenten innerhalb der sozialistischen und kommunistischen Internationalen, in denen sich die Beteiligten auch als Genossinnen und Genossen (nicht als Deutsche, Russen usw.) auseinandergesetzt haben oder sei es in neueren Projekten wie der Europäischen Linkspartei oder der transnationalen Sozialforumsbewegung. Ein solcher Prozess in Richtung einer europäischen oder perspektivisch globalen Linken setzt allerdings voraus, dass gemeinsame politische Zugänge ermittelt werden und praktische Erfahrungen in einer solchen globalen Linken möglich sind. Das erfordert erstens einen transnationaler Klärungsprozess um die Frage, was heute Emanzipation und linke Politik bedeuten könnten, ohne nationalistische oder regionalistische Folklore oder Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der (welcher eigentlich?) Völker. Und zweitens eine Ausrichtung der politischen, gewerkschaftlichen und kulturellen Massenorganisationen darauf, es ihren Mitgliedern zuermöglichen, praktische Erfahrungen zu sammeln: Intensivierung von Austausch, Seminarangeboten und Kooperationsbeziehungen, die massenhaft zugänglich sind. Der europäische Gewerkschaftsbund und die Europäische Linkspartei müssen sich von langweiligen Honoratiorenclubs zu erlebbaren Angeboten weiterentwickeln.

Anmerkungen
1 Karl Marx, Das Manifest der kommunistischen Partei (1848), in: Friedrich Engels/Friedrich Engels – Werke, Band 4, Berlin/DDR. 459-493.