anschlussfähig für antidemokrat_innen

Warum es keinen „gesunden“ Patriotismus geben kann

Katja Kipping und Lena Kreck

Während der WM 2006 haben wir es erlebt: Massenhaft warfen sich die Menschen eine Deutschlandfahne über die Schultern, malten das Gesicht schwarz-rot-gold an und betranken sich auf der Fanmeile, um ein „schönes Fußballfest“ zu erleben. Leider hat der inflationäre Gebrauch von Accessoires in Nationalfarben kaum nachgelassen.

Aber warum ist das eigentlich ein Problem? Beim Fußball muss man für ein Team sein. Und Klinsi sowie Jogi Löw in ihren weißen Hemden sind einfach eine Augenweide, denen wünscht man doch Erfolg. Auch sonst ist Deutschland gar nicht so übel. Immerhin haben „wir“ nicht am Irak-Krieg teilgenommen. Landschaftlich haben „wir“ auch einiges zu bieten. Im Übrigen sind alle anderen Nationen noch schlimmer drauf.

Die patriotische Stimmung, samt der Debatte um ein entkrampftes Verhältnis zu Deutschland, kam 2006 in einer Phase gelegen, in der die soziale Misere immer deutlicher wurde. Wer sein Land liebt, seine Fahne mit Stolz trägt und nicht mehr „an früher“ erinnert werden möchte, der bzw. die erträgt die Schikanen auf dem Jobcenter und die wachsende Existenzangst eher mit Fassung. Die macht sich nicht auf nach Berlin, um „ihren“ Reichtag auseinander zu nehmen. Deutscher Patriotismus wirkt befriedend. Zwar trennt das Zweiklassenregime im Bildungs- und Gesundheitssystem zunehmend zwischen oben und unten. Zwar gibt es kaum sozialen Ausgleich. Aber dafür kann man sich gemeinsam „Du bist Deutschland“ fühlen. Wie bequem für die Kräfte, die Sozialabbau betreiben! Der Deutschland-AG-Nationalismus und die Ich-AG sind zwei Seiten derselben Medaille.

Gleichzeitig ist der neue Patriotismus anschlussfähig für Antidemokrat_innen. Studien belegen, die Unterscheidung zwischen (gutem) Patriotismus und (bösem) Nationalismus sind konstruiert: „Menschen mit patriotischen Einstellungen lehnen Nationalismus nicht ab. Vielmehr geht beides oft Hand in Hand." 1 Bildlich gesprochen: Im Freudentaumel über jedes deutsches Tor wird auch der Typ mit der 88 als Rückennummer freudig umarmt. Da übersieht man auch mal, dass 88 unter Neo-Nazis als Code für den achten Buchstaben im Alphabet und 88 für Heil Hitler steht. Das für-Deutschland-Sein eint ausreichend.

Gern wird im Zuge der Deutschlandparty der Schuldkult gegeißelt. Da wird gefragt, warum jüngere Menschen sich schuldig fühlen sollen für Verbrechen, die vor ihrer Geburt begangen wurden. Was für ein alter Trick! Ich bau mir einen Pappkameraden auf und argumentiere dann energisch dagegen. Halten wir einmal fest, es gibt in diesem Land keinen Schuldkult, der eine individuelle Schuld der späteren Generationen behauptet. Beim Gedenken an die Verbrechen des Hitlerfaschismus geht es nicht um Schuld, sondern um Verantwortung. Verantwortung dafür, dass die Erinnerungen an und das Wissen um die Verbrechen der Nazis nicht verloren gehen. Verantwortung dafür, dass die, die in der geistigen Tradition des Naziregimes stehen, zurückgedrängt und ihre Lügen entlarvt werden.

Fazit: Nicht der Freudenschrei bei einem schönen Tor von Poldi ist das Problem. Das Problem ist das „Wir sind wieder wer“-Denken, ein Aufgehen in einer deutschen Identität, die nur funktioniert, wenn sie andere ausschließt und wenn man nicht zu oft von „früher“ spricht. Das ist gefährlich und antidemokratisch!

Anmerkungen:
1 Christopher Cohrs, zitiert nach Nikolaus Westerhoff: Die Mär vom guten Patrioten, Süddeutsche Zeitung vom 14./15. Juli 2007.