offensiv statt defensiv

Für eine transnationale Linke

Kolja Möller

Als sich 1846 die Progressiven Europas zum „Fest der Nationen“ in London trafen, war für den jungen Friedrich Engels die Sachlage klar (1): Die „Proletarier“ würden anfangen unter „dem Banner der kommunistischen Demokratie“ über die Grenzen hinweg „zu fraternisieren“. Sie hätten ein gemeinsames Interesse an der Überwindung ihrer Unterdrückung und seien schon deshalb in ihrem Selbstverständnis „humanitarisch“, „ohne Nationalvorurteile“, ja geradezu „antinational“. Für Engels ist das Proletariat der Hoffnungsträger für eine Globalisierung, in der „kommunistische“ und „kosmopolitische“ Prinzipien untrennbar miteinander verbunden sind. Das Proletariat erscheint hier noch als Träger eines universellen Emanzipationsprojekts, das nicht beim Mindestlohn stehen bleibt, sondern tendenziell auf die weltweite Aufhebung von Unterdrückung gerichtet ist. Deshalb überschreitet es die Grenzen der Territorialstaaten, das regionale Gepräge oder die kulturelle Zugehörigkeit. In der Folge hatte es Engels Gedankengang nicht leicht, aber selbst in den sozialdemokratischen und kommunistischen Internationalen bis hin zur situationistischen Internationalen der Spontis in den 1960er und 1970er Jahren lässt sich seine Spur nach verfolgen. Nur wenn die gesellschaftliche Linke transnational organisiert ist und ihre Identität über ein gemeinsames Emanzipationsprojekt herstellt, wird sie den Ansprüchen einer radikalen Politik gerecht. Es ist die „Internationale“, die das Menschenrecht erkämpft. Wohlgemerkt: nicht die Sozialistische Partei Buxtehude, die sich darauf beschränkt, für die BuxtehuderInnen das Beste rauszuholen und auch nicht der sozialdemokratische ArbeitnehmerInnenflügel, der sich ausschließlich den Interessen der männlichen FacharbeiterInnen annimmt. Unter dem „Menschenrecht“ sollte es die Internationale nicht machen.

Kein Sozialismus in Buxtehude

Eigentlich sind heute die Bedingungen für eine transnationale Linke besser denn je. Die Globalisierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse schreitet voran. Neue Kommunikationstechniken ermöglichen den Austausch jenseits teurer Briefkorrespondenz. Man könnte sogar noch weiter gehen: Um dem globalisierten Kapitalismus die Stirn zu bieten, ist eine transnationale Politik die einzige Chance das Emanzipationsprojekt der Linken überhaupt noch vermittelbar zu machen: Wie soll denn die Demokratisierung der Wirtschaft „in einem Land“ funktionieren, wenn die Abteilungen der Unternehmen über unterschiedliche Länder verstreut sind? Und wie soll der Kapitalismus wahlweise „gezähmt“ oder „überwunden“ werden, wenn die internationalen Finanzmärkte den Ton angeben? Und dann der Klimawandel: Was bringt der Sozialismus in einem Land, wenn die sozial-ökologischen Fortschritte der sozialistischen Republik Buxtehude in vierzig Jahren per Flutwelle oder Dürre auf den Müllhaufen der Geschichte bugsiert werden?

Trotz guter Ausgangsbedingungen und wachsendem politischen Problemdruck, ist eine transnationale Linke nicht wirklich in Sicht. Im Gegenteil: Es sind transnationale Eliten, die die Institutionen der Weltpolitik prägen. Die Kräfteverhältnisse sind für die Linken ungünstig. Selbst Organisationsformen, die auf eine transnationale Ausrichtung linker Politik zielen, kommen nicht so richtig in Fahrt. Der Europäische Gewerkschaftsbund und die Partei der Europäischen Linken funktionieren eher als Honoratiorenclubs, in denen betagte Herren gerne ausführlich über jeweilige nationale Spezifika referieren statt an einer gemeinsamen Agenda zu arbeiten. Das offene Geheimnis lautet: Europa ist das Spielfeld für langwierige diplomatische Rituale, die der gesellschaftlichen Relevanz linker Politik in keiner Weise entsprechen. Und auch bei den sozialen Bewegungen sieht es nur bedingt besser aus. Der offene Netzwerk-Charakter der Sozialforumsbewegung mag ein Garant für die Integration unterschiedlicher Akteure sein, doch der „open-space“ führt auch dazu, dass informelle Absprachemechanismen zwischen Bewegungs-Prominenten (auch hier: meist betagte Herren) bestimmend sind.

Genoss/-innen, nicht Deutsche

Trotzdem: Statt die Aussichtslosigkeit zu beklagen, wäre es doch an der Zeit an einer Flucht nach vorne, in Richtung einer transnationalen Linken zu arbeiten. Denn in gefährlichen Zeiten gilt auch: Lieber einen Tick zu voluntaristisch als zu konservativ. In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod. Es würde ja weniger um komplett neue politische Organisationen gehen, schließlich gibt es schon transnationale Strukturen der Gewerkschaften, von linken Parteien und sozialen Bewegungen. Sie müssten genutzt und in Richtung einer handlungsfähigen Linken ausgebaut werden. Das erfordert erstens einen programmatischen Klärungsprozess um gemeinsame Forderungen und politische Ansätze im weltgesellschaftlichen Maßstab. Auch die Grenzen, also die Abgrenzung in Richtung sozialdemokratischer Dritter Wege à la Tony Blair, regionalistischer Folklore oder religiös eingefärbtem Fundamentalismus, müssten dann auf die Tagesordnung. Zweitens wäre organisationspolitisch daran zu arbeiten, dass Räume für gemeinsame Diskussionen geschaffen werden, in denen die jeweiligen „nationalen“ Organisationsformen zurückweichen und in denen sich GenossInnen, nicht Deutsche, BrasilianerInnen, AmerikanerInnen usw., beratschlagen. Beispielsweise schließt das ausdrücklich die personalpolitische Frage ein, wer die RepräsentantInnen linker Politik sind: Wie wäre es, wenn der Vorsitz der Europäischen Linkspartei nicht durch Kungelrunden, sondern durch einen europaweiten Mitgliederentscheid besetzt wird? Oder wenn man den transnationalen Eliten zwei SprecherInnen des Weltsozialforums gegenüberstellt, um auch personell den Widerspruch zwischen einer neoliberalen und einer humanen Globalisierung zuzuspitzen? Oder gemeinsame, linke Bildungseinrichtungen, in denen transnationaler Austausch ermöglicht würde? So könnten programmatische und organisationspolitische Eckpunkte in Richtung einer globalen Linken entstehen.

Anmerkungen
1 Friedrich Engels, „Das Fest der Nationen in London“ (1845), in: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Band 2, S. 610 – 624, Berlin/DDR 1972.