„hier ist die rose, hier tanze!“

Radikaldemokratische Rechtspolitik für Europa

Andreas Fischer-Lescano

Die europäische Idee ist diskreditiert. Ein breites gesellschaftliches Bündnis sieht Europa als Hort des Neoliberalismus, des Militarismus, des Bürokratismus. Und in der Tat: Im Namen Europas zieht die Bundeswehr in den Krieg; im Namen Europas baut die Grenzschutzagentur Frontex an einer Festung, in deren Folge tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken; im Namen Europas hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) den Anwendungsvorrang eines supranationalen Rechts begründet, dessen Zustandekommen demokratischen Vorstellungen widerspricht und dessen Inhalt Grundsätze des Gerechtigkeitsempfindens verletzt: Der effet utile europäischen Rechts ist längst auch ein effet neoliberal.

Nationale Résistance

Paradoxerweise meint eine breite nationale Koalition nun aber, dass Europa dadurch sozialer, pazifistischer und radikaldemokratischer wird, dass man den europäischen Prozess nicht gestaltet, sondern sich ihm entgegenstellt. Von Peter Gauweilers CSU bis zu Diether Dehms LINKE, vom Max-Planck-Institut eines Fritz Scharpf bis zum ordoliberalen think tank der Freiburger Schule Roman Herzogs und Lüder Gerkens (CeP) reicht die staatsmonopolistische Résistancebewegung. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Juni 2009 hat sich diese unitas oppositorum zu Etappensiegern ausgerufen: Das deutsche Bundesverfassungsgericht habe in seiner Lissabonentscheidung ein nationales Machtwort gesprochen, gekleidet in ein „Ja, aber“ zum Lissabonvertrag. Selbst die europapolitischen Funktionsträger der LINKEN preisen das Urteil als einen nationaldemokratischen Emanzipationsakt an. In einer Presseerklärung aus dem Juli 2009 befinden der Europapolitische Sprecher der Linksfraktion Diether Dehm und der Obmann im EU-Ausschuss Alexander Ulrich: „Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon war ein großer politischer Erfolg.“ Langfristig verfolge man, so Dehm und Ulrich, eine Begräbnisstrategie: „Karlsruhe war die Trauerfeier, Dublin wird das Begräbnis“.

Begräbnisstrategie begraben

Wer aber das Lissabon-Urteil als politischen Erfolg eines Staates feiert, der gegen europäische Einmischung sagt „l’état, c’est moi“, stützt seine demokratische Hoffnung im Jahrhundert der postnationalen Konstellation auf die „Primärräume“ (Lissabon-Urteil BVerfG) nationaler Schicksalsgemeinschaftlichkeit. Das Karlsruher Urteil kann aber nicht zu einem Erfolg emanzipatorischer Politik für ein soziales und radikaldemokratisches Europa schön geredet werden. Eine am emanzipatorischen Ideal ausgerichtete europäische Rechtspolitik muss im Gegenteil anerkennen, dass das Gericht an der Gestaltung des sozialen Europas nicht interessiert ist und die Realisierung sozialer und demokratischer Grundsätze in Europa kein Stück wahrscheinlicher gemacht hat. Darum gilt es, die Begräbnisstrategie à la Dehm/Ulrich schnellstmöglich zu begraben. Drei Gründe:

Wider die etatistische Halluzination

Erstens: Die Begräbnisstrategen leiden an einer etatistischen Halluzination. Die Forderung nach einem Zurück zum Nationalstaat und seinem Opium des Nationalvolkes verkennt, dass beispielsweise in Fragen der Migration generell und der Nachzugsrechte für Drittstaatsangehörige speziell das europäische Recht in vielen Aspekten liberaler ist als das deutsche Recht. Der EuGH hat in einer Reihe von Entscheidungen die Familienrechte gegenüber ausweisungswilligen deutschen Behörden gestärkt. Auch im Bereich der Antidiskriminierung und der transeuropäischen Sozialleistungen für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger ist der EuGH zum Leidwesen konservativer Nationaljuristen durchaus progressiv. Das europäische Recht ist nicht nur einfach neoliberales Teufelszeug, sondern wie alles Recht Teil eines dialektischen Prozesses; zugleich Stützpunkt des hegemonialen Blocks und Bastion der Subalternen. Eine emanzipatorische Rechtspolitik in Europa muss die „Kämpfe ums soziale und demokratische Recht“ führen.

Wider die Einschränkung sozialer Rechte

Zweitens: Das Bundesverfassungsgericht ist nicht die Bastion subalterner Gegenhegemonie, zu der es die Begräbnisstrategen aktuell stilisieren. Das Karlsruher Gericht hat in seiner Lissabonentscheidung zwar den formalen Willen zur Macht dokumentiert, zugleich in den Begründungspassagen zur Menschenwürde und den sozialen Rechten aber deutlich gemacht, dass es damit nicht im Sinn hat, die sozialen Rechte der Subalternen zu verteidigen. Durch die Logik der Entscheidung werden im Gegenteil eher diejenigen gestärkt, die transeuropäische Solidaritätsstrukturen für eine Zumutung halten. Sie wollen unter Berufung auf nationale Kulturen und Sonderwege Europa als „Wirtschaftzweckverband“ zementieren, als eine Interessengemeinschaft des technokratischen Managerialismus, die die Horizontalwirkung der Grundrechte (und damit eine juridische Form der Vergesellschaftlichung von Privatakteuren) ablehnt, die es ablehnt, wenn der EuGH im Fall „Mangold“ im europäischen Antidiskriminierungsrecht eine weitgehende Auslegung etabliert, die es ablehnt, dass Migrations- und Familienrechte durch Europarecht gestärkt werden. Setzt sich diese Sicht durch, werden die ökonomischen Gewinner der Europäisierung vor den europarechtlichen Verlusten geschützt.

Wider parlamentarische Scheinlegitimationen

Drittens: Zu meinen, durch einen nationalen Parlamentspatriotismus könnten europäische und globale Governanceverhältnisse pazifisiert werden, ist eine Schimäre. Der Parlamentsvorbehalt hat im Bereich der Wehrverfassung durchaus eine Funktion der Verantwortungszuschreibung, weshalb man auch darauf hinwirken sollte, dass auch das Europäische Parlament in militärische Entscheidungsprozesse eingebunden wird. Aber für die Pazifizierung einer Nation im Kriege ist der Parlamentsvorbehalt eher Teil des Problems denn der Lösung: Es gibt keine sichtbare Eindämmung militärischer Maßnahmen durch die Parlamentarisierung. Der Deutsche Bundestag hat in noch keinem einzigen Fall einem gouvernementalen Entsendungsbegehr seine Zustimmung verweigert. Die humanitäre Intervention in den Kosovo, die militärische Bekämpfung der Piraterie vor dem Horn von Afrika – das deutsche Parlament hat all diese völker- und verfassungsrechtswidrigen Einsätze mit einer Scheinlegitimation versehen. Eine Rechtskontrolle der Einsätze und Beschlüsse fehlt allerorten. Das Bundesverfassungsgericht prüft nur formalistisch, ob ein Bundestagsbeschluss vorliegt. Das Gericht hat sich bislang in keinem Fall angemessen mit den Fragen der Völkerrechtskonformität solcher Einsätze befasst. Gerade hier müsste die formaldemokratische Logik durchbrochen werden. Es gilt, sich dafür zu engagieren, dass der EuGH, der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, der Internationale Gerichtshof (IGH) und nationale Gerichte – wie die Gerichte Italiens im Fall der Schadensersatzklagen von Opfern des Nationalsozialismus gegen Deutschland – die nationale Souveränität einschränken und die völkerrechtlichen Individualrechte von Opfern auf Wiedergutmachung und Rechtsschutz gegenüber den „souveränen“ Nationalstaaten stärken. Interdependenzsteigerung durch Internationalisierung und nicht Renationalisierung muss das rechtspolitische Programm sein.

Radikaldemokratie in Europa

Radikal-Demokratie in Europa muss demokratische und rechtliche Verfahren auch jenseits nationaler Parlamente stärken und die Projekte nationaler Elitenherrschaft durch eine Rechtspolitik für Europa ablösen, die den zentralen Nexus von sozialen und demokratischen Rechten betont. Mit Wolfgang Abendroth ist darauf zu bestehen, dass die demokratische und soziale Idee darauf angelegt sein muss, den materiellen Gedanken der Herrschaft des demokratischen Rechts auf die gesamte – und das heißt heute eben auch europäische und globale – „Wirtschafts- und Sozialordnung und auf das kulturelle Leben auszudehnen“. Den europäischen Prozess radikaldemokratisch zu gestalten und Partizipationsformen jenseits der Nationalstaatlichkeit zu stärken, sind keine geringen Herausforderungen. Wenn man den Kampf um demokratische und soziale Rechte in Europa annehmen möchte, verbietet sich jedwede souveränitätsbasierte Begräbnisstrategie. Die nationalen Verfassungsgerichte dürfen nicht zu Bestattungsunternehmern der europäischen Idee umfunktioniert werden, sondern sind als Arenen in einem rechtspolitischen Kampf ums soziale und demokratische Europarecht im Netzwerk transnationaler Gerichte ernst zu nehmen. Ein soziales und radikaldemokratisches Europa realisiert sich nicht durch die Ansammlung nationaler Volksgeister oder nationaler und supranationaler Bürgerschaften, die auf der Exklusion der Nichtbürger_innen gründen, sondern nur durch die Etablierung einer inklusiven Öffentlichkeit, die etatistische Ausschlusslinien überwindet. Die sozialen Voraussetzungen dieser transnationalen Öffentlichkeit zu stärken, ihre Streikrechte, Versammlungsrechte, Demonstrationsrechte, Widerstandsrechte, Partizipationsrechte, Kompensationsrechte, Teilhaberechte, Abwehrrechte etc. durchsetzbar zu gestalten und vor den europäischen Gerichten geltend zu machen, muss das Projekt emanzipatorischer Rechtspolitik für Europa sein.

Fußnoten:
„hier ist die rose, hier tanze!“: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 8, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, Berlin/DDR 1972, S. 118.