Perspektive global

Über das Konzept der Globalen Sozialen Rechte

Brigitte Oehrlein

Perspektiven global oder das Recht, Rechte zu haben

Der Begriff Globale Soziale Rechte (GSR) soll eine Vorstellung der Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens für alle geben.

Das „Recht Rechte zu haben“ (Hannah Arendt) ist eine bedingungslose Voraussetzung hierfür.

Der Kapitalismus jedoch zeichnet sich durch die Prinzipien Profitstreben,

damit Konkurrenz, Wettbewerb und Warenförmigkeit aus.

Sie aber verunmöglichen Ziele eines solidarischen Miteinanders und einer Gerechtigkeit,

die jedem Individuum selbstverständlich zustehen müßten,

um mit den ihm eigenen Fähigkeiten der Gesellschaft beitragen zu wollen und zu können.

Welche Bedingungen zwingt der Kapitalismus durch die von ihm erzeugte Gesellschaftlichkeit

den Menschen auf

und wie könnte eine Gesellschaftlichkeit aussehen, die mit GSR von Bedingungslosigkeit ausgeht,

statt, wie der Kapitalismus, von Ware gegen Geld, oder Leistung verlangt Gegenleistung,

oder einer Berechnung von Input und Output ?

Der Begriff GSR will das Konzept einer Perspektive anbieten,

um aus der lange währenden Krise der kapitalistischen Erwerbsarbeitsgesellschaft

eine Transformation in eine Gesellschaft vorstellbar werden zu lassen,

die die Prinzipien von Kapitalverwertbarkeit

zu Gunsten des Ziels der Erlangung individuell größtmöglicher Zufriedenheit ablöst.

Hierfür ist über eine Verteidigung des keynesianischen Wohlfahrts-/Sozialstaates

– letztendlich des Staates überhaupt – hinauszukommen.

Der auf dem fordistischen Akkumulationsmodell aufbauende Sozialstaat,

war an Massenproduktion von Konsumgütern gebunden,

die für eine begrenzte Zeit Vollbeschäftigung ermöglichte.

Aus einer linken Perspektive ist der Abschied vom lohnarbeitsgestützten nationalen Sozialstaat

aus vielen Gründen nicht zu bedauern: er war

1. ein autoritärer Staat,

der auf Formen bürokratischer Kontrolle,

wie Ausgrenzung nicht verwertbarer Teile der Gesellschaft basierte;

2. patriarchal ausgerichtet, da er über das sog. ‚Normalarbeitsverhältnis’

an den männlichen Alleinverdiener mit bürgerlichen Kleinfamilienstrukturen gebunden war

3. damit von geschlechtlicher Arbeitsteilung abhängig;

gekoppelt an die Reduzierung vieler Frauen auf unbezahlte Reproduktionsarbeit;

4. aufgebaut auf Ausbeutung und Ausschluß des globalen Südens

und Mißachtung der Bedingungen für eine intakte Umwelt,

durch die Gesellschaften des Nordens .

Der fordistische Wohlfahrtsstaat diente der Ausweitung und Stabilisierung des Massenkonsums,

also der Bedürfnisweckung nach Konsum ohne Ende,

somit der damit einhergehenden ökologischen Verwüstung

sowie der Zurichtung menschlicher Bedürfnisse auf kapitalistische Notwendigkeiten.

Seine bürokratische und ausgrenzende Sozialpolitik lieferte die materielle Basis

für gewünschte gesellschaftliche Integrationsbestrebungen, um den sozialen Frieden sicherzustellen.

Durch geschickte Einbindung der Interessenvertretungen der Arbeiterbewegung in den Staat

– in Deutschland bzw. der BRD wurde das besonders erfolgreich betrieben –

wurden systemgefährdende Unruhen vermieden.

Damit war die sozialstaatliche Regulation des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital

solange außerordentlich erfolgreich bei der Sicherung der Voraussetzungen kapitalistischer Verwertung,

wie das wirtschaftliche Wachstum als Voraussetzung dieser Sozialpolitik funktionierte.

Das aber bedeutet,

der keynesianische Wohlfahrtsstaat ist auf eine erfolgreiche kapitalistische Akkumulation angewiesen.

Damit hat er prinzipiell einen ambivalenten Charakter.

Einerseits ist er Produkt sozialer Kämpfe,

andererseits jedoch von Strategien ökonomischer und politischer Herrschaftssicherung bestimmt.

Der Sozialstaat ist strukturell von wirtschaftlichem Wachstum und kapitalistischer Profitabilität abhängig.

Gerät die Akkumulation des Kapitals in eine grundsätzliche Krise,

ist auch die materielle Grundlage des Sozialstaates bedroht.

Spätestens in der Krise, bei nachlassenden Wachstums- und steigenden Arbeitslosenzahlen,

zeigt sich die Abhängigkeit des nationalen Sozialstaates von der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus.

Mit ihr ist die gesellschaftliche Inklusionsleistung aufgebraucht.

Es findet nicht nur Ausgrenzung und Exklusion aller aus dem Produktionsprozeß herausgefallenen statt,

ihr Schicksal dient dazu, die Arbeitsbesitzer in Bedingungen zu pressen,

die keinen sozialen Kompromiß mehr erkennen lassen.

Damit erwächst die Notwendigkeit, dem neoliberalen Bannspruch,

es gäbe keine Alternative zum neoliberalen Umbau,

mit seiner Vereinzelungsstrategie, weg von jeder solidarischen Vergesellschaftungsform,

hin zur Individualisierung aller Lebensrisiken und der Kommodifizierung allen Gemeineigentums,

bis hin zu Lebensrechten und Leben selbst, etwas entgegenzusetzen.

Widerstände und Alternativen entstehen nicht allein durch solide Finanzierungsvorschläge,

sondern durch Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.

Ohne eine machtvolle soziale Bewegung sind auch die besten Alternativkonzepte nicht durchzusetzen.

Trotzdem ist der Ausgangspunkt hierfür eine breite Debatte über konkrete Transformationskonzepte,

denn schließlich geht es um die Garantie eines würdigen gesellschaftlichen Lebens für alle Menschen,

unabhängig von Einkommen, Erwerbstätigkeit, sozialem Status, Geschlecht oder Staatsbürgerschaft.

Alternativen aber müssen von dem erreichten Niveau der Globalisierung ausgehen.

Die reale Transnationalisierung des Kapitals,

wie auch die Internationalisierung gesellschaftlicher Arbeitsteilung,

machen eine soziale Re-Regulierung im nationalstaatlichen Rahmen

zu einem bekämpfenswerten Rückfall in nationalstaatliche Eigeninteressen.

Das Konzept GSR sucht Antwort auf die fundamentale Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft,

wie auf alle übrigen kapitalistischen Krisen.

Die Explosion der gesellschaftlichen Produktivität und der daraus entstandenen Reichtumsentwicklung

nimmt nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die reale Möglichkeit der Aufrechterhaltung

des allgemeinen Zwangs zur Arbeit.

Dieser Tatbestand wird in der herrschenden Politik durch ein System repressiver Maßnahmen kompensiert,

der die Betroffenen in immer unsinnigere Formen von Beschäftigung zwingt.

Damit werden alle emanzipatorischen Potentiale, die diese Entwicklung in sich trägt, zerstört.

Um diesem Potential Rechnung tragen zu können, müßte Abstand gewonnen werden

von dem herrschenden, ausschließlich auf Lohnarbeit fixierten Arbeitsbegriff.

Vollbeschäftigung auf der Basis von lebenslanger Vollzeiterwerbsarbeit

erscheint weder wünschenswert, noch bei dem erreichten Produktivitätsstandard weiterhin realisierbar.

Ein neuer Arbeitsbegriff wäre weiter und pluraler zu fassen.

Vor allem müßte er sich von der Fixierung auf die klassische Industriearbeit verabschieden.

Er sollte alle Tätigkeiten von Personen, die produktiv auf andere Personen gerichtet sind, umfassen. Trennungen zwischen Hand- und Kopfarbeit,

sowie zwischen Produktions- u. Reproduktionsarbeit sind zu überwinden.

Jede Definition gesellschaftlich sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten

muß alle Formen von Reproduktionsarbeit, Eigenarbeit und freiwilliger Arbeit einbeziehen.

Arbeit, gefaßt als individuelle Tätigkeit, bleibt die wichtigste Möglichkeit der Vergesellschaftung.

Jede Form hierarchischer gesellschaftlicher Arbeitsteilung bleibt entscheidende Grundlage

von Herrschaft und Ungleichheit.

Dieses muß jeder Entwurf einer politischen Alternativkonzeption

bei Fragen nach gesellschaftlich notwendiger und sinnvoller Tätigkeiten gründlich bedenken.

Die Entfaltung nicht-marktförmiger, aber gesellschaftlich nützlicher

und weniger entfremdeten Tätigkeiten wird sich erst ermöglichen,

wenn ein existenzsicherndes Einkommen von Lohnarbeit entkoppelt wurde,

um es als Rechtsanspruch jedem Individuum bedingungslos zu gewähren,

bei Bereitstellung einer verläßlichen sozialen Infrastruktur.

Sollen soziale Emanzipationsbestrebungen Bewegung mobilisieren,

braucht es dringend eine politische Perspektive, ein Projekt globaler sozialer Gerechtigkeit,

das über die Verteidigung des traditionellen nationalen Sozialstaates hinausweist.

Grundlage einer möglichen Transformation ist die ambivalente Dynamik der Globalisierung selbst:

eine wachsende globale wie nationale Verarmung, zunehmende Entrechtung und Ausgrenzung

stehen der Schaffung eines unvorstellbaren materiellen Reichtums gegenüber.

Dieser Reichtum sollte die materielle Basis für eine alternative Form der Vergesellschaftung sein.

Um die Grenzen staatsbürgerlicher Rechte aufzubrechen,

hin zu einer ‚Weltbürgerschaft’ (Hardt/Negri) mit GSR,

wäre entscheidende Voraussetzung, daß jeder Mensch, dort wo er sich aufhält,

Träger der dort geltenden Rechte wird, also an jedem Ort seiner Wahl das Recht hat, Rechte zu haben.

Dabei ist der entscheidende Unterschied zu dem Konzept der Menschenrechte zu betonen:

GSR gehen nicht davon aus,

Menschenrechte seien vom Staat zu gewährende oder zu garantierende Rechte,

sondern als anzueignende zu verstehen.

Recht nämlich hat immer einen Doppelcharakter:

einerseits soll es verläßliche Gerechtigkeit für alle und jeden schaffen,

andererseits ist es ein Herrschaftsinstrument, über deren Verwendung die Kräfteverhältnisse entscheiden.

Diesen Widerspruch bestimmt das traurige Schicksal der Menschenrechte.

Die realen Kräfteverhältnissen verhindern ihre Realisierung sowie den Aufbau von Institutionen,

die die MR umsetzen und garantieren.

So fehlt den Menschen Ort und Möglichkeit, ihre Umsetzung einzufordern.

Hieraus ergibt sich die Forderung GSR:

Sich als legitim erkannte Rechte anzueignen, sobald sie verwehrt werden.

Das aber läßt sich nur kollektiv umsetzen, was wiederum Kräfteverhältnisse verschieben würde.

Für globale Gerechtigkeit sind alle Überlegungen an dem Ziel auszurichten,

das Wohlstandsgefälle zwischen dem Norden und Süden auszugleichen.

Dafür ist darauf zu achten, stets an den konkreten, jeweiligen Lebensbedingungen anzusetzen.

Werden die Menschenrechte als Richtschnur für die Handlungsausrichtung genommen,

als die sie zwar weitgehend anerkannt sind,

doch deren Umsetzung nicht im Interesse kapitalistischer Herrschaft liegt,

wären globale Richtlinien verfügbar, die lokale Handlungsmöglichkeiten schüfen.

Das Gegenprinzip der Zurichtung der Menschen auf Verwertbarkeit

für Profitmaximierung lautet, den Menschen mit Bedingungslosigkeit zu begegnen:

Um das Prinzip der Verwertbarkeit für Kapitalinteressen zu überwinden,

braucht es die Bedingungslosigkeit, die dem Menschenrechtsgedanken zu eigen ist.

Hiernach hat das Individuum seine Bedürfnisse weder den Kapitalinteressen, noch der Gesellschaft,

unterzuordnen, sondern die Gesellschaft hat das Ziel zu verfolgen, Voraussetzungen zu schaffen,

die jedem einzelnen Individuum ermöglichen, seine ihm eigene Würde zu leben.

Ein soziales Miteinander ist so zu gestalten,

daß jedem Individuum möglichst vollständige Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeit geboten wird!

Schließlich kann nur so das gesellschaftliche Miteinander

zu höchster Produktivität der Gesellschaft wie des Einzelnen führen.

Denken von Leistung und Gegenleistung ist unvereinbar mit der Forderung nach Bedingungslosigkeit.

Die Menschenrechte jedoch leben von dem Gedanken, Rechte nicht an Pflichten zu binden.

Bedingungslosigkeit verlangt nach grundsätzlich anderer Lebensweise und Lebensgestaltung,

vor allem nach Repressionsfreiheit.

Der Gedanke der Notwendigkeit repressiver Maßnahmen

erscheint kapitalistischem Denken als unabänderlich, da er ihm immanent ist.

Im Kapitalismus kommt Rechte zu haben nur dem zu,

dessen Verhalten den gesetzten Bedingungen entspricht, also verdient wurde.

Kapitalistische Verhältnisse setzen als normative Grundhaltung,

Grundrechte, also Menschenrechte,

seien bei fehlendem Wohlverhalten zumindest teilweise abzuerkennen.

Der Gedanke der Bedingungslosigkeit hingegen schließt Strafe aus,

da Strafe das Einhalten von Bedingungen voraussetzt.

Dem Prinzip der Bedingungslosigkeit liegt ein Menschenbild zugrunde,

das davon ausgeht, der Mensch ist ein soziales, kooperatives Wesen,

jegliche Destruktivität ist Reaktion auf gesellschaftliche Ursachen,

die dem Individuum Zwänge, eine Zurichtung aufdrängen, die zu unaushaltbarer Frustration führen.

Um überblicksartig darzustellen, was das Konzept Globaler Sozialer Rechte anstrebt,

folgen einige Thesen zu GSR und ihrer Abhängigkeit von den Produktionsverhältnissen:

1.]

Das Konzept GSR einigt unterschiedliche linke Strömungen unter der Richtungsforderung

sich bedingungslose Grundrechte aneignen zu müssen,

um eine partizipative, gerechtere und demokratische Gesellschaft zu ermöglichen,

in der es dem Individuum durch Entfaltungsrechte ermöglicht wird,

sich als selbstbestimmten Teil der Gesellschaft zu erleben.

In der Nachkriegszeit erlangte die Aufnahme der Menschenrechte,

die durch ihre Nationalisierung zu Bürgerrechten wurden,

endlich das Bewußtsein, ausnahmslos Rechte aller Menschen zu sein.

Sie wurden so zunehmend von einer Idee ohne reale Verwirklichungsmöglichkeit

zu einer real erhobenen Forderung.

Doch scheitert ihre Verwirklichung an den realen ökonomischen Verhältnissen,

die einem Rechtssystem im Sinne bedingungsloser Rechte für alle Menschen

entgegenstehen.

2.]

Der Kampf um das Recht Rechte zu haben,

könnte zum gemeinsamen Kristallisationspunkt konkreter Kämpfe

politischer Akteure und Menschenrechtlern, Migranten, Gewerkschaften und Erwerbstätigen,

NGOs und Bewegungen werden.

3.]

Dafür ist eine spektrenübergreifende Debatte zu initiieren bzw. weiterzuentwickeln,

zu welchem Ziel hin linke Intervention führen soll.

Es sind Vorstellungen zu entwickeln,

was eine „andere“ Welt, ein „besseres“ Leben auszeichnen soll,

um für alle denkbar werden zu können.

Gleichzeitig müssen sie mit konkreten Aktionen linker Intervention wirksam werden.

Um kämpfen zu können, bedarf es vor allem einer Vorstellung,

wofür eigentlich zu kämpfen sich lohnt.

Ohne utopischen Überschuß, ohne Vorstellungen alternativer Gesellschaftszustände,

ohne Ziel, wo ein Kampf hinführen soll, ist kein Engagement zu entwickeln.

Notwendig wäre globales Denken herauszufordern,

um zu lokalen Handlungsstrategien zu gelangen.

4.]

Für den Aufbau einer solchen emanzipativen und solidarischen Gesellschaftsform ist wesentlich,

die folgenden V Punkte anzustreben:

I.:

Bruch des Wachstumsgedankens, radikale Ökologie

Der Kapitalismus basiert auf dem Konkurrenzprinzip, er ist maßlos,

da einzig auf Profitmaximierung ausgerichtet, was ständiges Wachstum,

auf Kosten von Mensch und Natur verlangt, damit die Lebensbedingungen aller einschränkt.

Obwohl der Profit gesellschaftlich produziert wird, wird er privat angeeignet.

Dieser Wachstumszwang blendet sowohl die ökologischen Folgen dieses Wachstums

bis hin zur Zerstörung der Lebensmöglichkeiten, als auch die Tatsache aus,

daß die Natur prinzipiell nicht zu beherrschen und nur zum eigenen Schaden auszubeuten ist,

weil die Menschen lediglich Teil eines auf Gleichgewicht ausgerichteten Systems sind,

das sie damit zerstören.

II.:

Globaler Reichtumsausgleich, hin zu globaler Gerechtigkeit

Die äußerst ungerechte Chancenverteilung im Nord-Süd-Gefälle,

ist Ergebnis kapitalistischer Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse.

Das zeigt sich in den Zugängen zum Weltmarkt, in der Schuldenproblematik,

in den Zugängen zu Ressourcen wie Öl und Wasser,

vor allem aber im Ressourcenverbrauch von Energie und der Belastung des Klimas.

Deshalb wäre unerläßlich, folgende Punkte umzusetzen,

- kulturelle, politische und ökonomische Selbstbestimmung,

- Ernährungssouveränität,

- Orientierung auf die Bedürfnisse der Bevölkerung statt auf bloßen Export,

- demokratische Partizipation am Welthandelsgeschehen,

sowie Schaffung von Transparenz dieser Strukturen

- Schuldenerlaß

- eine faire Verteilung bzw. freier Zugang zu Ressourcen

um die Marginalisierung des Südens aufzuheben.

III.:

soziale Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge

Eine soziale Infrastruktur, die kostenlos zur Verfügung stehen sollte,

umfaßt einerseits die Aufrechterhaltung aller Notwendigkeiten menschlicher Existenz,

wie Wohnung, Energieversorgung, Wasserversorgung,

andererseits bezieht sich Infrastruktur auch auf die Notwendigkeiten,

um zu freier Entfaltung zu gelangen, wie Mobilität, Bildung, Wissenschaft und Kultur.

Sie müßte dezentral und gemeinschaftlich gestaltet sein.

Im Bildungssektor ginge es zunächst um den Ausbau und die Sicherung

von öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Hochschulen, Volkshochschulen und Bibliotheken.

In einem solchen Konzept wird Bildung als sozialer Ort gefaßt, zur Aneignung aller Kulturtechniken,

die Partizipation aller an Gesellschaft und Politik ermöglichen.

Zu diesen Kulturtechniken zählen nicht nur technische Fertigkeiten und kognitive Fähigkeiten,

sondern auch soziale Kompetenzen und interkulturelles Wissen.

Dabei gilt es alle Formen der selbstorganisierten Vermittlung von Bildung zu fördern

und die großen Bildungseinrichtungen durch Einführung und Ausbau

einer wirklichen Selbstverwaltungsstruktur zu demokratisieren,

was für die gesamte Infrastruktur gelten muß.

Fixpunkt sind letztlich die Mobilisierung und Bereitstellung

der sozialen und infrastrukturellen Vorraussetzungen für ein ‚gutes Leben’ für alle

und nicht länger die Garantie der gesellschaftlichen Voraussetzungen der Kapitalverwertung.

Durch Schaffung einer sozialen Infrastruktur würden Bedingungen für die Entfaltung

von neuen Formen der Vergesellschaftung

und von selbstbestimmten Tätigkeiten jenseits der traditionellen Lohnarbeit hergestellt.

Mit neuen Arbeits- und Tätigkeitsformen würde eine Grundlage geschaffen für Lebensformen,

die emanzipatives und partizipatives Handeln begünstigen.

Auch setzte der Ausbau sozialer Infrastruktur, gekoppelt mit öffentlicher Daseinsvorsorge,

zu individuell bedingungsloser, armutsfester Existenzsicherung

eine sozial gerechte Umverteilung in Gang, schließlich wurde der Reichtum gesellschaftlich erarbeitet.

Seine private Aneignung durch Wenige kann unmöglich gerecht sein.

Um dem Menschenrechtsgedanken gerecht werden zu können, wäre unerläßlich,

eine individuelle, armutsfeste Existenzsicherung bedingungslos zu gewähren,

um den Erwerb notwendiger, zunächst in der Warenförmigkeit verbleibender Produkte

allen sicherzustellen.

Auch die Voraussetzungen gesellschaftlicher Partizipation sind dadurch zu gewährleisten.

Das ließe sich nur über eine Entkoppelung von Einkommen und Erwerbsarbeit erreichen.

Emanzipation, Kreativität und effektive Partizipation

durch Beitrag eigener Fähigkeiten in Selbstbestimmung,

um zu radikaldemokratischen Gestaltungsmöglichkeiten

einer anders ausgerichteten Gesellschaftlichkeit zu gelangen,

die der freien Assoziation nahekäme, sind nur zu erlangen,

wenn ein grundsätzlich anderes Konzept von Tätigkeit wirksam würde,

fernab jeden Zwanges und jeder Repression.

Menschen zielen auf soziale Kooperation, wie viele Untersuchungen belegen,

sofern sie nicht in dem Gefängnis von Zwang zur Erwerbsarbeit eingepfercht sind.

Die Funktion des Geldes ist kritisch zu bedenken.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen in Geldform ist nicht als Menschenrecht zu denken.

Das Menschenrecht bedingungsloser Teilhabe und Teilnahme ist nur so lange an Geld gebunden,

wie die gesellschaftliche Verteilung von Produkten an Geld gebunden ist.

Sobald Infrastruktur kostenlos zu nutzen wäre, schmälerte sich die Bedeutung des Geldes,

die Warenform würde zugunsten des ‚Gebrauchswertes’ zurückgedrängt werden.

Zur bedingungslosen Daseinsvorsorge zählt auch die Sicherheit von Gesundheitsversorgung und Pflege.

Ziel von Gesundheitsversorgung und Pflege sollte die Umsetzung eines erweiterten Gesundheitsbegriffes sein,

der ein schmerzarmes und selbstständiges Leben, bei psychisch größtmöglichem Wohlbefinden

für alle umfasst - nicht das Ziel der Widerherstellung von Lohnarbeitsfähigkeit.

IV.:

bedingungslose Bewegungsfreiheit

Flucht und Migration haben viele Ursachen.

Doch ist davon auszugehen, daß Flucht keine freie Entscheidung,

sondern untragbaren Lebensverhältnissen geschuldet ist.

Diese zunehmend untragbaren Lebensverhältnisse im Süden

sind Folge der globalen Herrschaftsverhältnisse,

sichtbar durch Kontrolle, Marginalisierung und Diktate der nördlichen Welt.

Würde der Norden sich für die Lebensverhältnisse der Opfer seiner Politik verantwortlich zeigen,

und für eine Bekämpfung der Auswirkungen sorgen, gäbe es weniger Flüchtlinge,

weil Menschen vorzugsweise in ihrem sozialen und kulturellen Umfeld verbleiben wollen.

Doch unabhängig davon läßt es der Menschenrechtsgedanke niemals zu,

Menschen unmenschlichen und unwürdigen Verhältnissen zu überlassen,

sie als unerwünscht oder illegal auszugrenzen.

MigrantInnen und Flüchtlinge haben nicht nur ein Lebensrecht,

sondern ein Recht auf ein existentiell gesichertes Leben, wie jeder Mensch überall.

Auch hier handelt es sich wieder um ein grundsätzliches Recht,

das kein Mensch einem anderen Menschen absprechen kann.

Auch das Recht der Bewegungsfreiheit ist ein Menschenrecht,

das durch entsprechende Migrations- und Flüchtlingspolitik umgesetzt werden muß.

V.:

radikale Demokratisierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik,

um emanzipative Partizipation zu gewährleisten

Die Forderung einer emanzipativen Gesellschaft steht der (rein) repräsentativen Demokratie entgegen,

da sie die Partizipation auf die regelmäßige Bestimmung jener Menschen reduziert,

die dann die politischen Entscheidungen stellvertretend ausführen,

während der profitorientierte Wirtschaftsbereich, der die Produktionsverhältnisse vorgibt,

damit die politischen Verhältnisse bedingt, jeder demokratischen Einflußnahme entzogen bleibt.

Die Bestimmung, welche Produkte gesellschaftlich notwendig und sinnvoll sind

und auf welche Weise sie produziert werden sollen,

unterliegt dem Markt (der die Warenform benötigt,

was zu einer undurchsichtigen Vermischung von Wert und Gebrauchswert führt,

und selbst die menschliche Arbeitskraft zur Ware reduziert),

anstatt einer demokratischen, gesellschaftlichen Entscheidung,

um dem Ziel möglichst nahe zu kommen,

individuelle Bedürfnisse zu erfüllen bei Achtung ökologischer Erfordernisse.

Die Forderung solidarischer, demokratischer Gesellschaftsverhältnisse

kann nicht durch den Ruf nach

‚demokratische Kontrolle’ erfüllt werden.

Denn demokratische Kontrolle ist ein Paradox:

Während Demokratie auf gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten zielt,

zielt Kontrolle auf Unterwerfung und Beherrschung.

Wer emanzipative Verhältnisse zum Ziel hat, kann unmöglich Kontrolle einfordern.

Es gilt, Verhältnisse zu demokratisieren, also Gestaltungs- und Einflußnahme zu erreichen,

was Transparenz von Vorgängen voraussetzt.

Kontrollverhalten ist grundsätzlich zu überwinden!

Nur weil die „Richtigen“ sie ausführen, wird sie nicht besser,

jede Form von Kontrolle schreibt hierarchische, fremdbestimmte Verhältnisse fest.

Statt mit einer Revolution auf die Übernahme staatlicher Macht zu zielen,

geht es, mit Poulantzas gesprochen, um ‚radikale Transformation’, auch des Staates.

Es geht darum, Widerstand gegen die im Staat verdichteten Kräfteverhältnisse zu unterstützen,

um einen radikaldemokratischen Weg in eine solidarische Gesellschaftsform einzuschlagen,

die Pluralismus und weitestgehende Ausweitung politischer und sozialer Freiheiten

für wirklich alle gewährt.

Die bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen sind zu verändern,

weil sie die dominanten, hierarchischen Machtverhältnisse alltäglich reproduzieren.

Notwendig also ist die Selbstveränderung der Menschen,

ihrer Bewußtseins- und Verhaltensformen, wie ihrer Werthaltungen.

Das ist ein äußerst langwieriger Prozeß,

der nicht mit der Übernahme von Herrschaftsstrukturen zu befördern ist.

Im Kapitalismus hat der Mensch seine Arbeitskraft unter Kriterien des Arbeitsmarktes zu verkaufen,

um aus dieser Fremdbestimmung den finanziellen Anteil ziehen zu können,

der ihm ein Überleben ermöglicht.

Sich seinen Lebensunterhalt ver-dienen zu müssen, fordert schon im Begriff das „Dienen“.

Der Begriff „Erwerbsarbeit“ desavouierte den Begriff „Arbeit“:

Wer verbindet mit ihm noch produktives Tätigsein, das, wonach jeder Mensch streben würde,

wäre er nicht in Zwangsverhältnisse eingebunden, die sich ihm selbst fremd werden ließen.

Arbeitskraft wird weltweit inwertgesetzt, Millionen von Menschen in die Lohnarbeit geworfen,

zugleich die industrielle Reservearmee vergrößert –

jedoch bleiben immer weitere Bereiche gesellschaftlich notwendiger Arbeit ‚ungetan’.

Wichtige reproduktive Tätigkeiten werden der Verwertungslogik unterworfen,

was zerstörerische Folgen für Reproduktion und Wohlbefinden mit sich bringt.

Der Mensch, als soziales Wesen, ist abhängig von der Anerkennung seiner Tätigkeit.

Warum sollte nicht möglich sein, die zwangausübende Verbindung

von Einkommen und produktivem Tätigsein vollkommen zu entkoppeln?

Wie letztendlich die Überwindung kapitalistischer Produktionsverhältnisse bewirkt werden kann,

wird erst der konkrete Prozeß zeigen.

Zunächst bedarf es offener Denk- und Aktionsräume,

um die Notwendigkeiten von Produktionsverhältnissen,

die an den Bedürfnissen von Mensch und Umwelt orientiert ist, herauszufinden.

Erst wenn allen Befriedigung ermöglichende Arbeitsverhältnisse geschaffen sind,

werden Lebensverhältnisse möglich, die nicht auf Trennung basieren.

Um das zu erreichen braucht es jede Menge Freiräume,

in denen horizontale, basisdemokratische Strukturen zu leben eingeübt werden können.

Zur Autorin

Brigitte Oehrlein, arbeitet seit Jahren zu „Globalen Sozialen Rechten“. Seit kurzem ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Außerdem ist sie Aktivistin von attac. Sie gehört zu den Herausgeberinnen u.a. des Bandes „Globale Soziale Rechte — Zur emanzipatorischen Aneignung universaler Menschenrechte“.

Langfassung des Beitrags im Magazin prager frühling Nr. 05.