22.10.2009

Verschollen im Bermuda-Dreieck der Zeitnot

Rezension: Zeit für Beziehungen? Zeit und Zeitpolitik für Familien, Heitkötter u.a.

Bernd Hüttner
Bernd Hüttner, RLS

Nein, Zeit hat heute kaum jemand mehr. Unabhängig von sozialem Status, Geschlecht, Beruf und Einkommen leiden heute viele unter Zeitnot. Obwohl dieses Phänomen das Alltagshandeln dominiert, wird es im linken Diskurs kaum thematisiert. Dort ist immer noch unhinterfragt die Einkommensnot das wichtigere Thema.

„Zeit für Beziehungen“ bietet in 16 Beiträgen empirische Daten, die eine kritische Gesellschaftsdiagnose, und eine Hilfestellung zur Erklärung der persönlichen Situation der Leser_innen ermöglichen. Es werden umfangreiche Darstellungen zur Zeitverwendung angeboten, oder ausführlich erklärt, warum „Familien“ sich heute regelmäßig daran abarbeiten müssen – und fast zwangsläufig daran scheitern - die unterschiedlichen Zeitrhythmen von Kinderbetreuung, Privat- und Berufsleben unter einen Hut zu bringen. Die Pluralisierung der Lebensstile, die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“ und der neoliberale Qualifizierungsdruck auf Eltern und Kinder verschärft diesen Prozess noch.

Gesellschaftlicher Hintergrund der Debatte ist selbstverständlich und im Band relativ unhinterfragt, wie Bedingungen dafür geschaffen werden können, dass gut ausgebildete Frauen mehr Kinder bekommen und damit das immer noch vorrangig „den Frauen“ zugeschrieben Entscheidungsdilemma „Beruf oder Kind“ abgeschwächt werden kann. Auf der Makroebene wird dafür plädiert, individuelle Transfers an Personen eher zurückzuschrauben und stattdessen in verlässliche und flexible familienbezogene Infrastruktur zu investieren. Eine Ansicht, die erst einmal sehr sympathisch klingt, aber vor dem Hintergrund zurückgefahrener Sozialleistungen und stark zunehmender Kinderarmut zumindest doppeldeutig ist.

Immer wieder zeigt sich eine geschlechtertypische Zuweisung. Die Synchronisation der verschiedenen Ansprüche wird vorrangig Frauen zugeschrieben. Männer scheinen da nicht zuständig zu sein. Dies resultiert aus dem typisch deutschen Bild, dass Erziehung Privat- und damit tendenziell Frauensache sei, aus der Verweigerungshaltung von Männern Erziehungs- und Reproduktionstätigkeiten überhaupt zu übernehmen, und der patriarchalen Anwesenheitskultur im Erwerbsleben, unter der jetzt neuerdings auch mehr Männer leiden.

Mankos des Buches sind seine sehr soziologische Sprache und die stellenweise durchscheinende etwas kulturpessimistische Sichtweise, Zeitwohlstand hätten heute nur noch Arme und Arbeitslose und dieser Umstand sei im Sinne einer Inwertsetzung der dort brachliegenden Potentiale zu ändern.

Martina Heitkötter u.a. (Hrsg.): Zeit für Beziehungen? Zeit und Zeitpolitik für Familien; Verlag Barbara Budrich, Opladen / Farmington Hills 2009, 435 Seiten, 39,90 EUR


Zum Autor:

Bernd Hüttner, Jahrgang 1966, Politikwissenschaftler, arbeitet als Regionalmitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bremen. Koordinator des bundesweiten Gesprächskreises Geschichte der RLS und Mitglied der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE.
Weiteres siehe hier auf der Website der Bremer Landesstiftung der RLS[1].

Links:

  1. http://www.rosa-luxemburg.com/?page_id=12#huettner