Nein, Zeit hat heute kaum jemand mehr. Unabhängig von
sozialem Status, Geschlecht, Beruf und Einkommen leiden heute viele unter
Zeitnot. Obwohl dieses Phänomen das Alltagshandeln dominiert, wird es im linken
Diskurs kaum thematisiert. Dort ist immer noch unhinterfragt die Einkommensnot
das wichtigere Thema.
„Zeit für Beziehungen“ bietet in 16 Beiträgen empirische
Daten, die eine kritische Gesellschaftsdiagnose, und eine Hilfestellung zur
Erklärung der persönlichen Situation der Leser_innen ermöglichen. Es werden
umfangreiche Darstellungen zur Zeitverwendung angeboten, oder ausführlich
erklärt, warum „Familien“ sich heute regelmäßig daran abarbeiten müssen – und
fast zwangsläufig daran scheitern - die unterschiedlichen Zeitrhythmen von
Kinderbetreuung, Privat- und Berufsleben unter einen Hut zu bringen. Die
Pluralisierung der Lebensstile, die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen
„Arbeit“ und „Freizeit“ und der neoliberale Qualifizierungsdruck auf Eltern und Kinder verschärft diesen Prozess noch.
Gesellschaftlicher Hintergrund der Debatte ist
selbstverständlich und im Band relativ unhinterfragt, wie Bedingungen dafür
geschaffen werden können, dass gut ausgebildete Frauen mehr Kinder bekommen und
damit das immer noch vorrangig „den Frauen“ zugeschrieben Entscheidungsdilemma
„Beruf oder Kind“ abgeschwächt werden kann. Auf der Makroebene wird dafür
plädiert, individuelle Transfers an Personen eher zurückzuschrauben und
stattdessen in verlässliche und flexible familienbezogene Infrastruktur zu
investieren. Eine Ansicht, die erst einmal sehr sympathisch klingt, aber vor
dem Hintergrund zurückgefahrener Sozialleistungen und stark zunehmender
Kinderarmut zumindest doppeldeutig ist.
Immer wieder zeigt sich eine geschlechtertypische Zuweisung.
Die Synchronisation der verschiedenen Ansprüche wird vorrangig Frauen
zugeschrieben. Männer scheinen da nicht zuständig zu sein. Dies resultiert aus
dem typisch deutschen Bild, dass Erziehung Privat- und damit tendenziell Frauensache
sei, aus der Verweigerungshaltung von Männern Erziehungs- und
Reproduktionstätigkeiten überhaupt zu übernehmen, und der patriarchalen
Anwesenheitskultur im Erwerbsleben, unter der jetzt neuerdings auch mehr Männer
leiden.
Mankos des Buches sind seine sehr soziologische Sprache und
die stellenweise durchscheinende etwas kulturpessimistische Sichtweise,
Zeitwohlstand hätten heute nur noch Arme und Arbeitslose und dieser Umstand sei
im Sinne einer Inwertsetzung der dort brachliegenden Potentiale zu ändern.
Martina Heitkötter u.a. (Hrsg.): Zeit für Beziehungen? Zeit
und Zeitpolitik für Familien; Verlag Barbara Budrich, Opladen / Farmington
Hills 2009, 435 Seiten, 39,90 EUR
Zum Autor:
Bernd Hüttner, Jahrgang 1966,
Politikwissenschaftler, arbeitet als Regionalmitarbeiter der
Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bremen. Koordinator des bundesweiten
Gesprächskreises Geschichte der RLS und Mitglied der Historischen
Kommission der Partei DIE LINKE.
Weiteres siehe hier auf der
Website der Bremer Landesstiftung der RLS.