22.10.2009

Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus

Krise und Ereignis

Thomas Seibert
Krise und Ereignis, Thomas Seibert 2009

Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus*

1 Einer Krise ausgesetzt zu sein, heißt immer auch, zu einer Entscheidung herausgefordert zu werden, mit ihr aber der Möglichkeit einer plötzlichen Wende begegnen zu können. Eine gefährliche Sache schon deshalb, weil es dabei um den Gebrauch des gesellschaftlichen Reichtums geht, um seine gewaltsame und im Wortsinn mörderische Vernichtung oder seine egalitäre festliche Verausgabung.
2 Die aktuelle Krise geht in ihrer politischen Ökonomie nicht auf.
3 Die Krise ist Krise des Empire*, die Herausforderung, sie zu entscheiden, stellt sich deshalb auch den Multituden* und ihren Singularitäten*. Herausgefordert ist also die wirkliche kommunistische Bewegung, d.h. ihr Antagonismus* im und zum Empire. Das qualifiziert im Umkehrschluss natürlich auch die Herausforderung selbst.
4 Die Krise ist folglich notwendig in der Perspektive ihres subjektiven Faktors* und in der Perspektive auf ihn in den Blick zu nehmen, folglich vom Primat der Kämpfe aus, ihrer Autonomie.
5 Der rechts wie links weitverbreitete Glaube*, die Krise werde auf den Boden der »Realwirtschaft« und damit der Realität zurückführen, wird enttäuscht werden, und das ist gut so. Es liegt darin eine Nötigung, Glaubensdinge ernster zu nehmen als dies in solch krudem Realismus auch nur möglich ist.
6 Die Krise ist zugleich eine solche von Biomacht* und Biopolitik*. Der Multitudenantagonismus auch.
7 Der Antagonismus schließt deshalb Kämpfe der Klassen* und gegen Ausbeutung ebenso ein wie Kämpfe gegen Herrschaft und gegen Formen der Subjektivierung*, er schließt außerdem die eigensinnige Differenz der antikolonialen bzw. antirassistischen, in bestimmter Zuspitzung notwendig antieuropäischen Kämpfe ein. Verschiedenheit wie Zusammenhang der Kämpfe folgen ihrer eigenen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, d.h. Sequenzialität und Epochalität.
8 Erster Anhalt der Frage nach der Herkunft der Krise ist der Mai 1968, der bislang letzte Wahrheitsprozess* der Politik, sein Auf-und Abbruch, also seine Rekuperation*.
9 In politischer Hinsicht erscheint die Krise zunächst als eine solche des Kampfes von Liberalismus* und Fundamentalismus*. Wer glaubt, dass es zwischen ihnen zu wählen gilt, hat die mit ihr gestellte Herausforderung schon verpasst.
10 Liberalismus ist Transzendenzverleugnung*, Fundamentalismus Immanenzverachtung*, beide Erscheinungsformen des Nihilismus*. In ontologischer Hinsicht ist die Krise also auch eine solche des Nihilismus, noch immer.
11 Zwischen Liberalismus und Fundamentalismus, also im Zentrum der Krise des subjektiven Faktors, spielt die zynische Vernunft, in der Transzendenzverleugnung und Immanenzverachtung zusammenfallen. Sie bleibt deshalb eine zentrale Kategorie der Kritik*.
12 Das Denken der wirklichen kommunistischen Bewegung ist aleatorischer Materialismus*, der so heißt, weil er die Befreiung des subjektiven Faktors einem Prozess ohne Subjekt* anvertraut, also einem Würfelspiel (aléa: frz. Risiko, Wagnis, Zufall; aléatoire: auf dem Zufall beruhend, riskant; von lat. alea: Würfel, Würfelspiel).
13 Weil zur wirklichen Bewegung immer wieder Aufbruch und Abbruch gehören, als die ihr eigenen Krisen, muss sie immer wieder neu beginnen. Deshalb sind Wiederholung* und Entwendung* ihre wesentlichen Methoden, ihre Geschichtlichkeit selbst.
14 Findet die Krise in Transzendenzverleugnung und Immanenzverachtung ihre ethisch-politische Artikulation, bleibt die Kritik der Religion Voraussetzung aller Kritik. Die Betonung liegt auf »bleibt«.
15 Die Krise ist auch eine solche der Arbeitssozialisierung überhaupt und damit jeder Philosophie der Geschichte, die deren Auflösung in der Perspektive einer Dialektik der Anerkennung denkt – und sei diese als Dialektik der Klassen gedacht. Hier kommt die De-Konstruktion* der »demokratischen« und »sozialistischen Ideen« ins Spiel, die selbst allerdings keine ungefährliche Sache ist.
16 Sich selbst ganz in die Krise hineinzustellen, um die mit ihr gestellte Herausforderung überhaupt verstehen und dann auch annehmen zu können, heißt, ihre Kompliz/in werden zu müssen. Auch das eine gefährliche Sache, ein Begriff dafür ist religiöser Atheismus*. Mit ihm wird gesagt, dass die kommunistische Bewegung der Multituden zugleich transnihilistische Reformation* der Singularitäten sein wird und beide auch dann nicht voneinander getrennt werden dürfen, wenn letztere über erstere hinausführt.
17 Im Blick auf ihren subjektiven Faktor ist die Krise dann aber unsere Passage durch die Proletarisierung der Gesellschaft* und die De-sozialisierung der Individuen*, die beide sowohl Voraussetzung wie Folge der Biopolitisierung* des Seins* sind. Gerade deshalb kann die Krise nur im Ganzen gedacht, ausgestanden und kommunistisch gekehrt werden, jenseits von Transzendenzverleugnung und Immanenzverachtung. Das ist, entgegen dem Wortklang, nicht dialektisch, sondern aleatorisch gemeint.
18 Die Krise, also die Proletarisierung der Gesellschaft und die De-sozialisierung der Individuen in der Biopolitisierung des Seins, ist die uns gestellte Herausforderung, also die jetzt gegebene Möglichkeit, singulare Universale zu werden, selbst deren wirkliche Bewegung zu sein.
19 Gefährlich ist die Krise auch, weil sie als biopolitische im radikalen Sinn des Worts eine Krise der Welt bzw. des Seins selbst, also eine apokalyptische Krise ist. Die in ihr auszustehende und zu bestehende Gefahr liegt in der Entleerung der Kommunikation – beginnend mit der Kommunikation der Singularitäten mit sich. Apokalyptisch wäre ein solches »Ende der Geschichte« nicht notwendig als Ende des organischen Lebens anthropologischen Typs, sondern als Verlöschen jeden Daseins* in diesem Leben.
20 Zu den von der Krise eröffneten Möglichkeiten gehört auch und gerade deshalb die kommende Demokratie, die uns in jetzt noch nicht kenntlicher Bestimmung unter eine unbedingte Forderung stellen wird. Von dieser Forderung ist vorab nur der Ausgangspunkt, damit aber auch der aufs Spiel gesetzte Einsatz zu benennen: Das Axiom der Gleichheit* aller und darin der Gerechtigkeit*.
21 Es gibt Kämpfe, es gibt Autonomie und Exodus und es kann von deren Primat gesprochen werden, weil Singularitäten in Individuen*, Multituden in Klassen*, Volk*, Bevölkerung* und Nation* immer schon präsent sind. Damit ist aber auch gesagt, dass die Formen des Individuums, der Klasse, des Volkes, der Bevölkerung und der Nation die inneren Gefahren einer Multitude sind, die Formen ihrer Korruption*. Dies ist und bleibt ein steter Einsatz der Kämpfe selbst, ihrer Ereignishaftigkeit* und der Weite des anthropologischen Exodus.
22 Man ist in der Gerechtigkeit oder man ist es nicht. Von ihr aus wird Recht politisiert, wird der Staat einer Präskription, einer Vorschrift unterstellt. Im gegenwärtigen Moment der Krise wie überhaupt im 21. Jahrhundert wird zugleich gelten müssen, dass die Gerechtigkeit selbst dem Staat und dem Recht fern bleibt, fern bleiben muss. Das ist kein Anarchismus.
23 Wenn die Krise wesentlich eine solche des Empire ist, ratifiziert dies den Einsatz des aleatorischen Materialismus: das Empire als Passage zu denken. Über die Dauer der Passage selbst ist damit allerdings noch nichts gesagt, hier kann von einer sehr langen Zeit die Rede sein. Auch hier verweist die Krise also auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Militanz und darauf, dass Militanz heute alltäglich-praktisches Weltverhältnis ist – oder nicht ist.
24 Unter den Bedingungen globaler Proletarisierung und De-sozialisierung politische Militante zu werden, heißt, die Freisetzung aus allen Grenzen zuletzt nicht nur als faktische Unumgänglichkeit, sondern als frei zu übernehmende Möglichkeit des ersten wirklich kommunistischen Weltverhältnisses zu bejahen: Exodus ist dort, wo der Aufbruch in die Wüste auch gewollt und gewählt wird. Das führt, der Begriff des Exodus zeigt das ebenso an wie der der Wahl, auf den religiösen Atheismus und damit auf die transnihilistische Reformation zurück, vgl. These 16 und 17.
25 Wenn das ganz Andere und ganz Neue nur mit einem Ereignis* in die Welt tritt, eine neue Welt sich plötzlich oder gar nicht öffnet, ist Militanz das Vertrauen auf diese Möglichkeit als Glaube an einen unkalkulierbaren Überschuss, an eine Gabe.
26 Der Gabe des Ereignisses gilt es lange und geduldig aufzulauern, was ein Kalkül einschließen kann und oft auch wird. Das Kalkül gilt einem Unberechenbaren: den Ereignishaftigkeiten. Es kann tragische, aber auch komische Folgen zeitigen und fordert auch deshalb spezifisch kommunistische Geduld.
27 Die spezifisch kommunistische Geduld und ihr unverzichtbares Anderes, die plötzliche Entscheidung, sind kein subjektives Kunststück, sondern noch immer Sache einer Kommunistischen Partei, also der fortgesetzten Kämpfe um die Form dieser Partei.

Gebrauchsanweisung

Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in siebenundzwanzig Thesen, Erläuterungen zu jeder einzelnen These, mehrere Zwischenbemerkungen und vier systematische Zusätze. Die Erläuterungen, Zwischenbemerkungen und Zusätze öffnen das philosophisch-politische Archiv, das jeder These mehr oder minder stillschweigend eingeschrieben ist, die Titel der Erläuterungen geben dazu Hinweise. Obwohl die Thesen kohärent aufeinander folgen, kann die Lektüre Vor- und Rücksprünge einschließen. Verweise auf solche Sprünge finden sich an vielen Stellen, ausdrücklich begründet und besonders ernst zu nehmen am Ende der Erläuterung zur 5. These. Weil es dabei um einen nicht nur politökonomischen Begriff der aktuellen Krise und ihrer weit zurück reichenden historischen Dimension geht, beanspruchen die Thesen längerfristige Geltung. Ihr Dreh- und Angelpunkt ist die untergründig noch heute fortwirkende Zweideutigkeit des Mai 1968 als des bislang letzten revolutionären Wahrheitsereignisses und des Entstehungsherds der »Globalisierung« genannten imperialen Konterrevolution. Berief sich Lenin auf drei Quellen des Marxismus (deutsche Philosophie, englische Nationalökonomie und französischer Sozialismus), bedienten sich die Militanten des Mai 1968 ebenfalls bei drei Quellen. Es waren dies ein jetzt auch willentlich pluraler Marxismus, ein existenzial(istisch)er Begriff des »subjektiven Faktors« und also der Militanz und schließlich die damals noch neuen Diskurse, die aus Verlegenheit bald mit der Leerformel »Poststrukturalismus « belegt wurden. Ihnen ist noch das hier zusammengeführte Begriffsarsenal entnommen, wenn auch nach den Erfahrungen geläutert, die seither gemacht wurden. Dem entspricht, dass es dabei um eine erste Bilanz der Debatten zur aktuellen Wiederkehr und Wiederholung wirklicher kommunistischer Bewegung geht, für die vor allem Alain Badiou, Michael Hardt, Toni Negri und Slavoj ´i¸ek stehen. Die Bilanz fällt natürlich einseitig aus, nicht zugunsten der einen oder anderen Position, sondern indem sie ihre eigene Linie zieht. Weil sich das auch auf die Begriffe auswirkt, findet sich am Schluss ein Glossar, das ihren Gebrauch innerhalb dieser Thesen und vor allem je ihren Witz dokumentiert und deshalb gleich zu Anfang und dann wiederholt befragt werden kann. Dort aufgenommene Begriffe* wurden bei ihrer ersten Nennung mit einem * markiert. Die Prominenz der Philosophie und die gelegentlich apodiktischen Formulierungen widersetzen sich der mächtigsten Herrschaftstechnik der Gegenwart, der postmodernen Konfusion. Das schließt, nur scheinbar paradox, die ausdrückliche Anerkennung der condition postmoderne ein: als einer Bedingung, die zu überschreiten ist. Die Freizügigkeit des Zitierens, d.h. der Entwendungen und Wiederholungen, verweist nicht auf akademische Deckung, sondern auf die Kollektivität des Denkens. Ihr gilt mein Dank.

Thomas Seibert: Krise und Ereignis. Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus, VSA: Hamburg, Oktober 2009 (ISBN 978-3-89965-384-7)

Zum Autor:


Thomas Seibert, Dr. phil., ist Philosoph und Aktivist in einer Person. Zahlreiche Publikationen zu Philosophie und Politik, zu Globalisierung und globalisierungskrititischen Bewegungen, Mitarbeiter von medico international, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Rosa Luxemburg Stiftung, Aktivist bei Attac und der Interventionistischen Linken.

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