11.12.2009

"Die Einheit der Partei ist in Gefahr!"

Mal wieder "Offene Briefe" zur Lage der Partei

Kolja Möller/Jörg Schindler

Es mehren sich die Stimmen, die diesen Befund mit großem Pathos nutzen, um ihre Vorstellungen einer linken Politik einer kritischen Prüfung zu entziehen. So aktuell ein „Offener Brief“ verschiedener Parteimitglieder[1] aus dem Apparat der Bundestagsfraktion. Parteiräson statt Diskussion, ordre di mufti statt Erarbeitung gemeinsamer Standpunkte. Und dann – statt offener Benennung der seit langem in der Partei bestehenden politischen Differenzen – die Überbetonung der Form gegenüber dem Inhalt: Maßgeblich sei…

…die Einheit der Partei.
Das Praktische an der stetig gefährdeten Einheit, die von allen aufrechten und moralisch beflissenen Genossen gegen Eindringlinge, Dissidenzen und Abweichungen verteidigt werden muss, ist, dass mit ihr so ziemlich alles gerechtfertigt werden kann: Der aufgeklärte Absolutismus des Mittelalters sah die Staatssouveränität ständig gefährdet; Müntefering sah mit der WASG-Gründung 2004 die Einheit der Arbeiterbewegung gefährdet, der Frankfurter Universitätspräsident, der kürzlich die Uni von Besetzern räumen ließ, die Einheit und Integrität seiner Bildungseinrichtung. Es gibt zwei weitere Vorteile des Einheitsarguments: Es ist einfach, weil es auf sich verweist und kein anderes Ziel angibt als es selbst: Die Einheit ist das Ziel, weil das Ziel die Einheit ist. Und dann ist es praktisch, weil es auch in zeitlicher Hinsicht omnipräsent ist: Es gab wahrscheinlich keinen Zeitpunkt in der Geschichte sozialer und politischer Bewegungen, in der ihre Einheit nicht durch irgendwas oder irgendwen „gefährdet“ gewesen wäre. Die Rhetorik der im Verzug befindlichen Gefahr jedenfalls ist keine sonderlich linke Argumentation; sie gehört zum Souveränitäts- und Ausnahmezustandsdenken konservativer Staatspolitik.

Es gibt keine Einheit.
Die spannnende Frage ist jedoch: Wie geht eine linke Partei damit um, dass es eben – wie wir von Marx und Engels lernen können – wenigstens vor dem Kommunismus nie wirkliche Einheit, sondern immer nur Widersprüche und Differenzen geben wird. Zur Erinnerung: Die kapitalistische Gesellschaft ist wenigstens klassengespalten, wenn nicht noch mehr. Wie geht eine linke Partei mit gesellschaftlichem und politischem Pluralismus um? Wie bündelt sie Anliegen und wir erreicht sie es aus diesem Pluralismus heraus etwas gemeinsam Anerkanntes herauszuarbeiten, das dann tatsächlich identitätsstiftend wirkt? Die Strategie der Parteiräson jedenfalls ist kurzsichtig: Wer sich in Erklärungen und Briefen zur „eigentlichen“ Partei erklärt und die jeweils Anderen im Grunde rausschmeißen will, untergräbt sein eigenes Einheits- und Stärkegebaren, weil die Gesamtkonstruktion interessanterweise dadurch nicht stärker, sondern schwächer wird.

Deshalb drüber reden.
Was zu folgendem führt: Die Differenzen zu verschiedenen politischen Fragen, sei es zur Stellung öffentlichen Eigentums und des Umfangs des öffentlichen Dienstleistungssektors, der Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung, der UN-mandatierten Kriegseinsätze, des Umbaus der sozialen Sicherungssysteme und im Übrigen der Rolle der gesellschaftlichen Arbeit überhaupt, des europäischen Raums als politischen Kampfort und nicht zuletzt die Frage, ob der „demokratische Sozialismus“ ein umfassendes alternatives Gesellschaftsmodell oder ein eher unverbindlicher Wertehimmel ist, sind nicht erst seit der Veröffentlichung im „Spiegel“ mit Händen zu greifen. Deshalb war es richtig, die WASG und später die neue Partei „DIE LINKE“ als linke Sammlungsbewegung zu konzipieren. Das schließt gerade die Anerkennung der Differenzen notwendig ein. Schon deshalb muss also jetzt darüber geredet werden. Das gilt selbst für diejenigen, die – wie die Verfasser des „Offenen Briefes“ – der Meinung sind, dass die Positionen der Programmatischen Eckpunkte und des Wahlprogramms allesamt so bleiben müssen. Schon, damit es so bliebe.

Links:

  1. http://www.jungewelt.de/2009/12-11/047.php