kämpfe um geschlechtliche selbstbestimmung

Zweigeschlechtlichkeit in der Kritik

Corinna Genschel

„Für die Würde intersexueller Menschen – gegen Geschlechtsnormierungen im medizinischen Bereich!“ Unter diesem Motto fand am 21. Februar 1998 an der Berliner Charité eine Protestkundgebung mit Redebeiträgen, Geschlechterquiz für die Besucher/innen und einer Besichtigung der Innenräume statt. Anlass dieses Protestes war das Treffen der deutschsprachigen Kinder- und Jugendgynäkolog/innen, die sich zum dritten Mal zusammengefunden hatten, um sich über die Definition, Prävention und Behandlung geschlechtlicher Normabweichungen bei Kindern und Jugendlichen zu verständigen.
Besonderer Schwerpunkt der Aktion bildete die bis dato öffentlich völlig unhinterfragte Praxis der Zwangszuordnung und -behandlung von (Klein-)Kindern, die den herrschenden Standards geschlechtlicher Eindeutigkeit nicht entsprechen und die in der Folge von medikamentösen und operativen Eingriffen zum Teil lebenslang überrollt werden. Neben der Verletzung der körperlichen Integrität ist dabei die Anweisung, „zum Wohle der Kinder“ Diagnose und Behandlungsgrund vor den Kindern geheim zu halten, besonders perfide. Die Entwicklung einer sicheren Geschlechtsidentität müsse vor Irritationen geschützt werden und sei nur so zu gewährleisten, lautet die Begründung. Eine Irritation sei es dabei, den Kindern mitzuteilen, ihre geschlechtliche Zuordnung sei bei Geburt nach herrschenden Standards nicht eindeutig gewesen, weswegen sie sich dauerhaft verschiedenen Prozeduren haben unterziehen müssen. Intersexuelle als konkrete Subjekte darf es also nicht geben. Im Umkehrschluss bedeutete dies für sie jedoch neben physischem Trauma und Verletzung, Scham, Schweigen und Tabu.
Die normative und gewaltförmige Durchsetzung der Logik von „Geschlechtsidentität“, wie sie sich in dieser Praxis der medizinischen (und rechtlichen) Vereindeutigung von Geschlecht artikuliert, verdichtet die Vielfalt ideologischer und rechtlicher, sozialer und politischer Mechanismen der Herstellung und Absicherung der Zweigeschlechtlichkeit. Eine – im übrigem historisch junge – Ordnung, die sich als vermeintlich natürliches, naturwissenschaftlich begründetes System von zwei und nur zwei akkurat unterscheidbaren und doch (heterosexuell) ergänzenden Geschlechtern darstellt. Eine Gesellschaft, die zwanghaft aber die Illusion einer biologisch begründeten Zweigeschlechtlichkeit aufrechterhalten will, muss sich die Menschen, die dieser Ordnung gewollt oder ungewollt widersprechen und unterlaufen, vom Leibe halten. So werden diejenigen, die von der Anordnung abweichen, ein Geschlecht in spezifischer Weise zu sein und zu bleiben, als krank definiert, klassifiziert und Regeln der „Identitätsfindung“ unterworfen. Sie werden zu „bunten Vögeln“ oder Freiwild, sind unterschiedlichen Formen von Gewalt, Verhöhnung oder Zwangsmaßnahmen ausgesetzt.

Gendertrouble, neue Bündnisse und Angriffsfelder

Neben der Skandalisierung und Ermächtigung Intersexueller zu Subjekten von Erfahrung und mit Rechten ging es 1998 deswegen auch darum, die (konkrete) Kritik an der Zweigeschlechtlichkeit zum allgemeinen Problem zu machen. Im Redebeitrag des Bündnisses hieß es: „Wir sind auf unterschiedliche Weise mit dem zweigeschlechtlichen Geschlechtermodell „in Konflikt“ geraten. Wir erleben die Geschlechterordnung, die hierarchische Ordnung, den Zwang, ein heterosexuelles Geschlecht zu sein, als Zumutung und als Skandal. (…) Wir wissen, dass uns das Problem der Zweigeschlechtlichkeit, die sich über alle Irritationen als das Eigentliche darstellen muss, individuell aufgehalst wurde, dass wir in einzelne Gruppen aufgespalten werden. Auch wenn nur wenige von uns von körperlichen Zwangseingriffen in der Kindheit selbst direkt betroffen waren, sind uns bestimmte Körpervorstellungen aufgezwungen worden, waren wir allein. Gerade weil wir zu unterschiedlichen Wegen gezwungen wurden und verschiedene Entscheidungen in unserem Gendertrouble getroffen haben, wissen wir, wie wichtig ein individuelles Selbstbestimmungsrecht ist. Aber auch wie wichtig es ist, gemeinsam die Bedingungen dafür zu schaffen.“
In seiner Zusammensetzung aus Inter- und Transsexuellen, Menschenrechtsgruppen, Lesben, Schwulen, Transgender-Personen und Feministinnen war das damalige Bündnis sicher auch Ausdruck eines sich verändernden Gefüges sexueller und geschlechtlicher Politiken, mit denen die gesellschaftliche Bedingungen ins Zentrum gerückt werden, die Norm, Abweichung und Ausschlüsse herstellen und Gesellschaft – ihre Diskurse, Institutionen und materielle Praktiken – ordnen. Die Kritik an der Medizin mit dem gesamten Apparat der Pathologisierung ist dafür ein wichtiges Beispiel. Nicht umsonst haben sich einige Gruppen eine konsequente Depathologisierung zum Ziel gesetzt – wie Homosexualität 1973 soll auch „Identitätsstörung“ aus den Diagnosehandbüchern verschwinden. 2009 wurden erstmalig in Deutschland dem Schattenbericht zum „6. Staatenbericht zum Übereinkommen der UN zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frauen“ (CEDAW) weitere Schattenberichte aus intersexueller und transsexueller Perspektive zugefügt. 1 Diese zeigen, dass die Behandlungspraxis intersexueller Kinder nicht ein Problem der Vergangenheit darstellt, auch wenn sich einiges in der Zwischenzeit verbessert hat. Zudem verdeutlichen diese Berichte wie auch andere Studien zu Gewalt, Gesundheit, Recht verschiedener „Trans-Organisationen“, dass es nicht nur „Sondergesetze“ sind, die die gesellschaftlichen Bedingungen diskriminierend formen. Weitaus wichtiger ist die Erkenntnis, wie sehr die (geschlechtlichen) Normen sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche ziehen (Gesundheit, Bildung, Öffentlichkeit, Arbeit usw.) und damit den Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen, die Verteilung von Ressourcen und letztlich den gesellschaftlichen Diskurs des Sprechbaren regulieren. Hier gilt es konkret politisch und gleichzeitig diskurskritisch anzusetzen.

Anmerkungen
1 Schattenbericht zum 6. Staatenbericht der BRD zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW), erstellt vom Intersexuelle Menschen e. V. / XY-Frauen (www.lsvd.de/fileadmin/pics/Dokumente/Lebensformen/Parallelbericht_CEDAW_2008_-_Verein_intersexueller_Mensche_.pdf[1])

Links:

  1. http://www.lsvd.de/fileadmin/pics/Dokumente/Lebensformen/Parallelbericht_CEDAW_2008_-_Verein_intersexueller_Mensche_.pdf