07.03.2010

Den Tiger reiten!

Oder: ist eine radikaldemokratische Parteistruktur unter den Bedingungen von Massengesellschaft und funktionalen Notwendigkeiten von Organisation möglich?

Alban Werner
Alban Werner

Jörgs und Koljas Vorschläge für die Demokratisierung der Partei DIE LINKE kommen genau zum richtigen Zeitpunkt; sie sind hoch erwünscht, reagieren sensibel auf die Schwierigkeiten und Probleme, denen sich eine linke Partei mehr als alle ihre politischen KonkurrentInnen ausgesetzt sieht. Ich möchte diese Vorschläge nur ergänzen und in einem einzigen Fall kritisieren.

1) Politische Führung

Des Pudels Kern wurde schon angesprochen: Die LINKE ist und bleibt – eine Partei, d.h. eine Organisation mit verschiedenen Ebenen, die auf gut ausgebildete hauptamtliche Kräfte angewiesen ist, deren Kurs aber durch die hauptsächlich ehrenamtlichen FunktionsträgerInnen bestimmt werden soll. Allein aus diesem Umstand werden zwangsläufig immer Spannungsverhältnisse entstehen, die im schlechteren Fall zum „ehernen Gesetz der Oligarchie“ ausschlagen. Aber auch aufgrund der schieren Größe der Organisation braucht die LINKE unweigerlich etwas, das die vielen kleinen Politgruppen so nicht kannten, in denen viele West-Linke sozialisiert wurden: Politische Führung.

Eine Großorganisation kann nur durch ihr Führungspersonal wirksam handeln und wird auch in den unverzichtbaren Massenmedien nur über dieses wahrgenommen. Gerade weil die LINKE außerdem deutlich heterogener ausfällt als die Vorgängerpartei PDS, wäre eine nüchterne Diskussion umso dringlicher, welche Aufgaben eine Führung hier zu leisten hat. U.a. dadurch, dass diese Debatte versäumt wurde, aufgrund des Wahlmarathons der vergangenen zwei Jahre auch versäumt werden musste führte jetzt zu der völlig unzufrieden stellenden Nachfolgeregelung für Oskar Lafontaine und Lothar Bisky und den zeitgleich durchgesetzten Vorschlag für den neuen geschäftsführenden Parteivorstand.

2) Verbündete und Oligarchisierung

Nicht Weniger innerhalb der Partei hoffen darauf, dass Tendenzen zur Oligarchisierung durch ständige Nähe der Partei zu den sozialen Bewegungen effektiv blockiert werden können. Diese Hoffnung ist verständlich, aber hoch problematisch: Zum einen wird z.T. der Eindruck erweckt, DIE LINKE müsse selbstverständlich Forderungen mittragen, nur weil sie von bestimmten sozialen Bewegungen artikuliert werden. Diesen Eindruck zumindest konnte man während der Debatte um das Bundestagswahlprogramm gewinnen, als die Forderungstrias nach Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche, Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von nicht unter 10 Euro und nach Erhöhung des ALG 2-Eckregelsatzes auf 500 Euro den Status einer heiligen Dreifaltigkeit verliehen bekam. Wer diese – insbesondere in den westlichen Landesverbänden – nicht fraglos übernehmen wollte, wurde schnell denunziatorisch mit dem Etikett bedacht, sie oder er wolle es sich auf der Regierungsbank neben der SPD bequem machen.

Der so aufgemachte Gegensatz zwischen „guter“ Bewegungsorientierung und „bösem“ Regierungssozialismus geht allerdings völlig an der Realität vorbei: Ein erheblicher Teil der sozialen Bewegungen, nicht zuletzt die Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände sind nämlich erheblich „gouvernementalistischer“ als es viele selbsterklärte „Bewegungslinke“ wahrhaben wollen. Sie erwarten von der LINKEN, dass sie bei sich bietender Möglichkeit einen Regierungswechsel zu Rot-Rot oder Rot-Grün-Rot ermöglichen.

Strategisch ist die Ausrichtung, sich um eine Verankerung bei sozialen Bewegungen und Rücksprache mit ihnen zu bemühen, trotzdem richtig. Aber wenn man unter sozialen Bewegungen nicht nur das lose organisierte, dezidiert linke Spektrum derselben versteht, gewinnt man mit dieser Orientierung noch keine zuverlässige „Kindersicherung“ gegen opportunistischen Regierungssozialismus.

3) Den Finger in die Wunde legen…

Erstaunt hat mich, dass Jörg und Kolja in ihrem Papier die Rolle der Strömungen (offiziell: anerkannte innerparteiliche Zusammenschlüsse) im Hinblick auf die Oligarchisierung vollständig links liegen lassen. Dabei sind die Strömungen in den vergangenen Monaten innerhalb der Partei immer häufiger Gegenstand von scharfer Kritik geworden. Auf der Versammlung zur Aufstellung der Listenplätze zur NRW-Landtagswahl genügte für KandidatInnen schon das Bekenntnis, keinerlei Strömung anzugehören, um lauten Applaus zu ernten. Trotzdem wurden am Ende die meisten Plätze von StrömungsvertreterInnen besetzt. Die Landesgruppe der LINKEN aus NRW im Bundestag besteht gar komplett nur aus Strömungsmitgliedern (hier: von Antikapitalistischer Linke, AKL und Sozialistischer Linke, SL), obwohl beide zusammen einen einstelligen Anteil der Mitgliedschaft im Landesverband auf sich vereinen.

Hier tut sich ein Dilemma auf, dem weder mit populistischer Strömungsschelte, noch mit rhetorischer Kritikabwehr der Strömungen beizukommen sind. In einer großen, pluralistischen Organisation ist es unvermeidlich, dass sich Mitglieder in Richtungszusammenschlüssen organisieren; und es war ein großes Verdienst der LINKE-Vorläuferpartei PDS, als Lehre aus dem autoritären Charakter der SED die Pluralität in Form von Strömungen anzuerkennen und satzungsmäßig abzusichern. Das Problem liegt weniger in der Existenz der Strömungen schlechthin als darin, dass sie ihre ureigene Aufgabe nicht immer erfüllen, nämlich den unterschiedlichen und strategischen inhaltlichen Orientierungen innerhalb der Partei Ausdruck und Nachdruck zu verleihen. Strömungen sind immer davon bedroht, zu Karrierenetzwerken zu verkommen und sich nach außen hin abzuschotten. Dagegen helfen könnten zum Beispiel zwei Prinzipien:

Erstens sollten Strömungen ihre Funktion erst nehmen. Ähnlich wie in der Sozialistischen Partei Frankreichs lange praktiziert, sollten sie sich um inhaltliche Richtungsanträge im Vorfeld von Parteitagen oder Mitgliederbefragungen gruppieren. So würden die Debatte belebt und Diskussionen politisiert statt personalisiert. Die Strömungen sollten sich dementsprechend zuständig fühlen, kontroverse Meinungsbildungsprozesse innerhalb der Partei auf allen Ebenen organisieren- und erst auf dieser Grundlage sich berechtigt fühlen, Personalvorschläge zu machen.

Zweitens ist eine Selbstbeschränkung der Strömungen bei der Besetzung von Parteiämtern unverzichtbar. Die Strömungen sollten sich verpflichten, keinesfalls mehr KandidatInnen aufzustellen als für einen Anteil, der geringer ist als die Hälfte der zu vergebenden Ämter. Dann erscheint die Partei für das „ungebundene“ Mitglied nicht mehr als Beute der Strömungen; stattdessen können diese ihren Gebrauchswert für die Partei unter Beweis stellen.

4) Weniger ist mehr!

Nicht nachvollziehen kann ich Jörg und Koljas Vorschlag, die Beschränkung des MandatsträerInnen-Anteils im Bundesvorstand auf 50 % aufzugeben und dafür den ParlamentierInnen zu verbieten, Delegierte zu werden.

Warum nicht das eine tun, ohne das andere zu lassen? Wenn bis zu 50 % der GenossInnen im Bundesvorstand ein Mandat besitzen dürfen (und mit absoluter Sicherheit können wir davon ausgehen, dass dieser Anteil fast immer erreicht werden wird) ist die effektive Kommunikation zwischen Vorstand und Bundestagsfraktion zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Umgekehrt ist aber davon auszugehen, dass bei Fallenlassen dieser Quotierung der Vorstand sich absehbar bald nur noch oder mehrheitlich aus MandatsträgerInnen zusammensetzte. Die Perspektive von Nicht-BerufspolitikerInnen hätte es dementsprechend immer schwerer, sich dort durchzusetzen. Schon jetzt haben alle GenossInnen, die durch Mandat oder Job bei MandatsträgerInnen im „Raumschiff Berlin“ beheimatet sind und nicht zu Sitzungen, Konferenzen oder konspirativen Vorbereitungstreffen extra aufwendig dorthin anreisen müssen, einen kaum ausgleichbaren strukturellen Vorteil gegenüber allen anderen.

Jörgs und Koljas Vorschlag, der Parteitag solle sachorientierter ohne charismatische Medienshow die Partei in Grundsatzfragen festlegen, ist richtig, beseitigt aber keinesfalls die in einer Großorganisation unvermeidlichen Principal-Agent-Probleme (im Politologen-Fachchinesisch: das Problem, wenn eine Person oder Gruppe eine andere Person oder Gruppe mit Aufgaben beauftragt, der Beauftragte aber ggf. vom Auftrag abweichende Interessen, zugleich aber höhe Sachkompetenz als der Auftraggeber hat). Sie abzumildern kann nur gelingen, wenn der Willensbildungsprozess zumindest in den Grundzügen an der Parteibasis vorbereitet und nachvollzogen wird, sprich: Mindestens über die wichtigsten Inhalte und Streitpunkt von Parteitagsinhalten muss auf Orts- und Kreisverbandsebene diskutiert werden, um dort Entpolitisierungsprozesse oder „kommunalpolitischen Kretinismus“ zu verhindern.

5) Schluss: „…kein Gott, kein Kaiser, kein Satzungsparagraph!“

Am Ende jedoch kommt es, ganz gleich wie viele institutionelle, „auto-paternalistische“ Schutzmechanismen man gegen die Oligarchisierung einzieht immer darauf an, welche politische Kultur innerhalb einer Partei effektiv etabliert wird, und ob die Parteimitglieder zu einer wachsamen, aber nüchternen Balance von Ver- und Misstrauen gegenüber ihrer politischen Führung finden.

Vertrauen ist nötig, damit sie nicht bei jedem Kompromiss oder Zugeständnis an die Realität von Mediengesellschaft und Parlamentsarbeit „Verrat“ schreien und pausenlos mit dem Instrument des Mitgliederentscheids mobilisieren. Misstrauen und Nüchternheit braucht es, damit in der politischen Kultur der Partei das Führungspersonal unterliegen kann, ohne dass – typisch Deutsch – der Untergang des Abendlandes ausgerufen wird („man kann doch nicht den Kanzler stürzen!“). Der dramatische Verfall demokratischer Kultur in der SPD zeigte sich ja nicht zuletzt darin, dass selbst politische Forderungen mit beinahe 90 % Zustimmung in der Mitgliedschaft wie die Vermögenssteuer auf Parteitagen regelmäßig abgelehnt wurden- ein Paradebeispiel für erfolgreicher Disziplinierung.

Erinnern wir uns mit Brecht daran, dass die Parteiführung langfristig immer nur so gut sein wird, wie sie durch den kritischen Stachel einer politisierten, aufmerksamen aber nüchternen, leidenschaftlichen, aber fairen Mitgliedschaft verpflichtet ihrem Auftrag bleibt:

Scheue dich nicht, zu fragen, Genosse!
Laß dir nichts einreden,
Sieh selber nach!
Was du nicht selber weißt,
Weißt du nicht.
Prüfe die Rechnung,
Du mußt sie bezahlen.
Lege den Finger auf jeden Posten,
Frage: wie kommt er hierher?
Du mußt die Führung übernehmen.

(Bertolt Brecht, Lob des Lernens)