herrschende meinung?

Rechtspolitik als Spielfeld

Miriam Saage-Maaß und Kolja Möller

Recht und Verfassung stellen sich oft als widersprüchliche Errungenschaften dar. Einerseits stabilisieren die Rechtsapparate verfestige Machtverhältnisse. Andererseits gewähren das Recht und die Berufung auf Rechte den gesellschaftlich Benachteiligten und Marginalisierten auch Sicherheit und ein gewisses Maß an Freiheit. Recht bietet eben auch die Chance, bestimmte Machtverhältnisse, etwa zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen oder zwischen Zivilgesellschaft und Staat, zu verändern. So hatte schon der Politikwissenschaftler und Staatsrechtler Wolfgang Abendroth eine Möglichkeit aufgezeigt, gesellschaftliche Kämpfe ums Recht als emanzipatorische Kämpfe um Teilhabe zu begreifen. Nach Abendroth darf das Recht nicht den herrschenden Kräften überlassen werden. Stattdessen gelte es, die Bedeutung des Rechts für das emanzipatorische Projekt ernst zu nehmen und den Kampf ums Recht als „notwendige Voraussetzung eines Emanzipationskampfes“ zu begreifen. „Wir müssen heute in der Sprache dieser juridifizierten Gesellschaft reden, ob es uns passt oder nicht passt.“(1) Ohne eine Rechts- und Verfassungspolitik, die auf eine Veränderung der Rechtsapparate zielt, wird auch eine progressive Reformpolitik schnell an ihre Grenzen stoßen. Dies gilt spätestens dann, wenn die „Schuldenbremse“ in gerichtlichen Verfahren gegen eine antizyklische Wirtschafts- und Finanzpolitik in Anschlag gebracht ist oder der Europäische Gerichtshof – wie jüngst in den Fällen Viking, Rüffert und Laval geschehen – die Grundfreiheiten weiter über die Streikrechte der europäischen ArbeitnehmerInnen stellt.

An diesen Beispielen ist ablesbar, dass Gesetz eben nicht immer Gesetz ist. Viel hängt davon ab, wie Gerichte allgemeine Regeln konkret anwenden, wie sie Generalklauseln auslegen, wen sie anhören und welche Positionen sie als „herrschende Meinung“ zu Grunde legen. Auch die Rolle sozialer Bewegungen ist in diesem Kontext nicht zu unterschätzen. Gerichtsverfahren haben oft eine über den konkreten Rechtsstreit hinausgehende Bedeutung. Sie setzen Impulse für politische und soziale Auseinandersetzungen. Rechtliche Konflikte stellen Kristallisationspunkte sozialer Kontroversen dar und können Auslöser kollektiver Lern- und Mobilisierungsprozesse sein. Um diese Effekte zu erreichen, ist es erforderlich, dass Gerichtsverfahren aktiv von zivilgesellschaftlichen Akteuren begleitet werden. Das Verfahren darf nicht allein zwischen juristischen Experten verhandelt werden, sondern muss Gegenstand politischer Kampagnen und Diskurse werden. Es wäre Aufgabe einer progressiven Reformpolitik solche Kämpfe ums Recht aufzunehmen und sich nicht nur auf parlamentarische Politik zu beschränken.

Darüber hinaus sind auch Veränderungen innerhalb der Rechtsapparate erforderlich: Es braucht eine Reform der JuristInnenausbildung, die sich für gesellschaftliche Fragestellungen öffnet und mehr als die „herrschende Meinung“ vermittelt. Und nicht zuletzt sollten progressive Kräfte ein Interesse daran entwickeln, auf die Besetzung von Bundes- und Landesverfassungsgerichten Einfluss zu nehmen. Institutioneller Einfluss kann so in eine längerfristige Veränderung der Verfassungspolitik münden und die Grenzen, von dem, was „möglich“ und „unmöglich“ erscheint, verschieben.


Fußnoten

1 Wolfgang Abendroth, Diskussionsbeitrag, in: Peter Römer (Hg.), Der Kampf um das Grundgesetz, Frankfurt am Main 1977.