perspektiven der mosaiklinken

Anforderungen an Crossover

Klaus Dörre

Es ist paradox: Ein liberal-konservativer Block, der schon bei der Wahl nicht über eine Mehrheit verfügte, verliert binnen weniger Monate deutlich an Zustimmung und sitzt dennoch fest im Sattel. Während die FDP rechtspopulistische Züge annimmt, besetzt die Union das Terrain einer wirtschaftsnahen Sozialdemokratie. Hauptgrund für die stabile Instabilität der Regierung ist die Mobilisierungsschwäche der Opposition, die derzeit weder über ein attraktives Gesellschaftsprojekt noch über eine glaubwürdige Machtoption verfügt.

Ökonomisch-ökologische Doppelkrise

Soll diese Konstellation eines Tages progressiv aufgelöst werden, müssen linke Parteien und soziale Bewegungen aus der ökonomisch-ökologischen Doppelkrise lernen. Denn kurz nach den Wahlen in NRW ist mit der Rechnung für die Bewältigung der Krise zu rechnen. Sloterdijk- und Westerwelle-Debatten waren das Vorspiel für den Angriff auf den Sozialstaat. Die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse wird fortschreiten und dies wird nicht nur Spaltungen innerhalb der subalternen Gruppen vertiefen, sondern auch jene disziplinieren, die noch über eine Festanstellung verfügen. Diese Problematik lässt sich nicht mehr zureichend mit traditioneller sozialdemokratischer Reformpolitik bearbeiten. Die aus betriebswirtschaftlichen Kalkülen ausgelagerten ökologischen Folgekosten zehren bereits heute einen Gutteil des gesellschaftlichen Reichtums auf. Wegen dieses destruktiven Wachstums bietet eine neo-keynesianische Wirtschaftspolitik allein noch keine Alternative. Umgekehrt lässt sich ein ökologischer Umbau ohne Schritte zur Entprekarisierung nicht realisieren.

Programmatisches Crossover

Weil die ökonomisch-ökologische Doppelkrise nun offen zutage tritt, sieht sich die Linke an einen Punkt zurückgeworfen, den sie Ende der 1980er Jahre schon einmal erreicht hatte. Allerdings erfolgt die Problembearbeitung inzwischen in einem Fünf-Parteien-System. Doch führende Sozialdemokraten geben sich noch immer der Illusion hin, man könne sich der Konkurrenz einer eigenständigen Linkspartei wieder entledigen, die GRÜNEN neigen zu Bündnissen mit der CDU; und der LINKEN stehen interne Klärungsprozesse bevor. Da die Mehrheitsströmungen in den Gewerkschaften ihr Heil im Krisenkorporatismus suchen und die sozialen Bewegungen noch keine Ansatzpunkte für größere Proteste gefunden haben, bleiben rot-rot-grüne Bündnisse vorerst eine vage Option. Linke Zufallsmehrheiten reichen nicht aus, um eine wirkliche Alternative zu ermöglichen. Benötigt wird ein neuer programmatischer Grundkonsens für eine radikale Reformpolitik mit „langem Atem“. Das Ausloten eines solchen Konsenses hätte ein neues programmatisches Crossover zu leisten.

Schnittmengen

Von den Grundlagen eines emanzipatorischen Sozialstaates über die Restrukturierung der Arbeitswelt bis hin zur Revitalisierung der Demokratie gibt es genügend zu bearbeitende Themen. Drei Komplexe sind daher von zentraler strategischer Bedeutung: Erstens die Transformation der Ökonomie: Hier muss nach Alternativen zu einem markt- und technikzentrierten „Green Capitalism“ gesucht werden. Mit seinem Urvertrauen in Marktkräfte klammern solche Visionen die Problematik sozialer Nachhaltigkeit faktisch aus. Die Verknüpfung von Verteilungsgerechtigkeit und sozialer Sicherheit mit der Konversion industrieller Strukturen ist für die Handlungsfähigkeit der politischen Linken und der Gewerkschaften zentral. Im Zentrum dieser Debatte müssen der Wachstums- und der Wohlfahrtsbegriff stehen. Die Linke ist hier gespalten. Plädieren die einen für einen vollständigen Bruch mit dem kapitalistischen Wachstumsregime, sprechen sich die anderen für eine Neudefinition von Wachstum und einen „grünen Radikalkeynesianismus“ aus.

Zweitens ist die Neudefinition von Wirtschaftsdemokratie von zentraler Bedeutung. Es gilt, Konzeptionen für einen flexiblen Hochgeschwindigkeitskapitalismus zu entwickeln. Dabei muss der Wachstumsproblematik ebenso Rechnung getragen werden wie den Interessen Prekarisierter und den Anforderungen an die Geschlechterdemokratie. Eine zeitgemäße wirtschaftsdemokratische Konzeption ist notwendig, um ein ökologisch-soziales Umsteuern jenseits autoritativer Versuchungen zu ermöglichen.

Die gesamte Linke benötigt drittens ein verändertes Politikverständnis. Mitte-Links-Bündnisse waren in der Vergangenheit auch deshalb wenig erfolgreich, weil sie mit dem Regierungsantritt zivilgesellschaftliche Unterstützung einbüßten. Ein radikaler Reformismus mit „langem Atem“ wird nur erfolgreich sein, wenn er auch in der Regierung gesellschaftlich mobilisierungsfähig bleibt. Das geht nicht ohne antikapitalistische Kritik, die die Schwellen der „Systemverträglichkeit“ offensiv auslotet.

Die Mosaiklinke

Als ein Leitbild mit Perspektive hat Hans-Jürgen Urban den Begriff der Mosaiklinken geprägt. Damit ist etwas anderes gemeint, als eine bloße Neuauflage traditioneller Bündnispolitiken. Die politische Linke ist inzwischen genau so ausdifferenziert wie die Gesellschaft. Sie muss diese feldspezifische Eigenständigkeit wahren, um glaubhaft agieren zu können. Unabdingbare politische Einigung bedeutet dialogische Einigung auf Zeit und für spezifische Projekte unter Beibehaltung je besonderer Identitäten.

Dies gilt auch für die beteiligten Parteien. Die Sozialdemokratie muss sich von der Agenda-Politik lösen, aber sie muss dazu nicht werden wie DIE LINKE. Wahrscheinlich ist, dass die GRÜNEN ökologische Kompetenz noch immer authentischer verkörpern als ihre Konkurrenz und dass die LINKE den Antikapitalismus deutlich besser repräsentiert und ihr Umfeld ein Gravitationszentrum von politisch besonders aktiven Gruppen ist. Dieses Potential ist für einen radikalen Reformismus des 21. Jahrhunderts unverzichtbar. Aus diesem Grund gibt es nur eine glaubwürdige alternative Machtoption – ein rot-rot-grünes Bündnis mit tiefer Verankerung in der zivilen Gesellschaft. Ein neues Crossover-Projekt bedeutet, daran zu arbeiten, dass eine solche Option real werden kann. Die unlängst erfolgte Gründung des Instituts Solidarische Moderne (ISM) ist ein Schritt in diese Richtung, dem hoffentlich viele weitere folgen werden.