internationalismus als ungeliebte pflicht

Die Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg

Jörn Wegner

„Aber wenn es gegen den russischen Zarismus als Feind aller Kultur und aller Unterdrückten geht, werde selbst ich als alter Knabe noch die Flinte auf den Buckel nehmen.“ Diese Worte August Bebels vom Essener Parteitag 1907 gingen in die Geschichte als „Flintenrede“ ein. Knapp sieben Jahre später wurde Bebels Rede Realität: Im August 1914 stimmte die SPD-Fraktion der Bewilligung der ersten Kriegsanleihe zu und besiegelte die Burgfriedenspolitik. Die Zeitschrift „Der Simplicissimus“ zeigte daraufhin am 25. August 1914 ein Titelbild, auf dem sich Bismarck und der verstorbene Bebel – mit Flinte auf dem Rücken – im Himmel die Hand geben. Es gab keine Parteien, keine Sozialisten mehr, es gab nun nur noch Deutsche.

1910 veröffentlichte der zeitweilige Vorsitzende der russischen jüdisch-sozialistischen Arbeiterpartei (SERP) Markus Ratner in Sozialistischen Monatsheften einen Essay, der eine Definition für Nation versucht.1 Er kam zu dem Ergebnis, dass die Nation keine rationale Grundlage habe, lediglich ein sich stetig änderndes Gebilde aus gemeinsamen Erfahrungswerten sei. Auch der Zusammenhang zwischen der Frage nationaler und ökonomischer Emanzipation sei komplexer, als ihn die Sozialdemokratie, insbesondere die Orthodoxie um Karl Kautsky, darstellte. Kautsky selbst sah im Zuge der imperialistischen Entwicklungen der Jahrhundertwende den „nationalen Gedanken“ als „kraftvolles Element des Fortschritts“2, ein Paradigma, das sich in abgewandelter Form bis heute bei linken Positionen zu nationalen Befreiungsbewegungen hält.

Kautskys Ansätze zur Nation wurden von zunehmenden Integrationstendenzen der SPD in den deutschen Staat begleitet. Die Unterstützung der Reichsregierung in der zweiten Marokkokrise und damit die Aufgabe der „vaterlandslosen“ Obstruktions-Politik, die sich im Reichstag auf die prinzipielle Ablehnung von Anträgen der bürgerlichen Fraktionen konzentrierte, wurde als positiv rezipiert. Man glaubte, den konservativen Alldeutschen damit ihr stärkstes Argument, die antipatriotischen Vorwürfe, genommen zu haben. Die Arbeiter/-innenschaft hat diese Entwicklungen in der SPD durchaus negativ aufgenommen. Im Gegensatz etwa zum liberalen Großbritannien hatten die deutschen Arbeiter/-innen kein gutes Verhältnis zu Staat und Nation. Ein Grund war die Rolle, in der sie den Nationalstaat wahrnahmen: Nahm er in Großbritannien die Rolle der unparteiischen Instanz ein, die ökonomische Konflikte zu schlichten versuchte, so positionierte sich der Staat in Deutschland politisch. Dass sich mit der Zeit die Schere zwischen der in großen Teilen nach Anerkennung und Anpassung strebenden Parteiführung und der realen Arbeiter/-innenschaft öffnete, ist dabei wenig verwunderlich.

1900 zeichnete Wilhelm II. in Bremerhaven demonstrativ Hafenarbeiter aus, die im Gegensatz zu ihren Hamburger Kollegen nicht streikten. Der Hamburger Streik fügte damals den deutschen Expansionsplänen in China Schaden zu, da Schiffe nicht auslaufen konnten. Die Gewerkschaftsführung wies die Vorwürfe, die Hamburger Arbeiter seien „vaterlandslos“, zurück. Vielmehr seien die Hamburger wegen anderer ausgesperrt und wirklich vaterlandslos wären die Unternehmer. Die Arbeiter hätten das Vaterland noch nie im Stich gelassen.3

Der August 1914 ist ein Beispiel, das die verschiedenen Einstellungen der Linken zur Nation konzentriert darstellt. Sozialdemokratische Rechtfertigungsliteratur hielt bis in die letzten Jahre die Mär von den nationalistisch-patriotischen Arbeiter/-innen aufrecht, denen sich die noch immer proletarisch-internationalistische SPD beugen musste, wollte sie nicht wie zu den Reichstagswahlen 1907 als „vaterlandslose Gesellen“ bekämpft oder gar verboten werden. Die Realität sah anders aus: Ende Juli, Anfang August gingen unzählige Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Straße, um gegen den drohenden Krieg zu protestieren. Unter den Linden, in Berlin, fanden regelrechte musikalische Schlachten statt: das die „Internationale“ anstimmende Proletariat gegen „Heil dir im Siegerkranz“ der chauvinistischen Meute. Das bürgerliche „Augusterlebnis“, die hurrapatriotische Stimmung in den ersten Kriegstagen, blieb unter den Arbeiter/-innen aus. Berichte beschreiben eine gedrückte Stimmung in den Arbeitervierteln, Memoiren erzählen von verzweifelten und wütenden Reaktionen auf die Entscheidung der SPD-Fraktion. Es gab einfach kein Interesse, deutsche „Kultur“ der restlichen Welt gewalttätig zu vermitteln. Die Arbeiter/-innen hatten dafür Gründe, die im chauvinistisch-nationalistischen Bürgertum keine Rolle spielten. Der Ehemann und Vater an der Front bedeutete nicht nur menschliches Leid, sondern durch den Wegfall des Einkommens, materielle Not und ein Zerbrechen der ohnehin geschundenen Familienstrukturen. Und das alles für einen Staat, der ausschließlich in repressiver Form in Erscheinung trat. Zweifelsfrei keine originär internationalistische Position, wohl existierte aber das Wissen darüber, dass es den britischen, französischen oder russischen Arbeiterinnen und Arbeitern ähnlich ging.

Hatte die europäische Sozialdemokratie über Jahre den proletarischen Internationalismus mit unzähligen Resolutionen auf den Kongressen der II. Internationale hochleben lassen, so brachen diese Proklamationen mit einem Mal zusammen. Letztlich verfolgte auch die Sozialdemokratie die Leitlinie, die Innenpolitik über alles zu stellen und den Internationalismus nur als ideologisch verordnete Pflicht zu pflegen.

Die deutsche Sozialdemokratie befand sich dabei in einem Dilemma. Das Erbe von 1848 musste fortgeführt und von links besetzt werden, da sich der Nationalismus als Ideologie auch für nicht-elitäre Gruppen öffnete. Anklang fand die sozialdemokratische Art, sich positiv auf die Nation zu beziehen, allerdings weniger im Proletariat als im Kleinbürgertum, das seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts vermehrt in die SPD strömte und deren Politik bis heute schließlich mit teils fatalen Folgen dominiert.

Anmerkungen:

1 Markus Ratner, Nationalitätsbegriff und nationale Autonomie, in SM Nr. 6/1910, S. 345-354.

2 Karl Kautsky, Militarismus und Sozialismus in England, in Neue Zeit, Nr. 19/1900, S. 587-597.

3 Correspondenzblatt, Nr. 32, 13. August 1900.

Autoreninfo:

Jörn Wegner hat in Berlin Geschichte und Musikwissenschaft studiert. In seiner Magisterarbeit setzte er sich mit der Arbeitermusikbewegung auseinander. Aktuell promoviert er an der Uni Potsdam zu Debatten in der britischen und deutschen Arbeiterbewegung zu Krieg und Kolonialismus vor 1914. Er ist aktiv in der LINKEN Berlin und Mitglied bei der Emanzipatorischen Linken, der GEW, und dem SDS.