von der „anderen seite der europäischen moderne”

Radikale Balkanologie von unten

Andrej Grubačić

Vor ca. zehn Jahren – zur Hochzeit der humanitären Abenteuer Europas auf dem Balkan – schrieb der britische Journalist Michael Nicholson: „Die Heftigkeit der Balkanvölker ist zuweilen so primitiv gewesen, dass Anthropologen sie als einen der wildesten und primitiven Stämme der Welt ansahen. Bis zur [letzten] Jahrhundertwende gab es noch Berichte aus dem Balkan von enthaupteten feindlichen Köpfen präsentiert als Trophäen auf Silbergeschirren an Siegesmittagessen..."

Der europäische Universalismus

Ich komme aus einer guten kommunistischen Balkanfamilie. Dort haben wir – vermutlich gilt dies für meine Mitstammesangehörigen ebenso – solche Delikatessen nie genossen. Um solche Art Äußerung zu klären, müssen wir tief ins historische Gewebe des Balkans eintauchen: ‚Balkanismus’ (balkanity) wurde quasi beim Berliner Kongress von 1878 erfunden und stellt eine Kernidee des europäischen Universalismus dar. Dieser schloss den Balkan als Symbol alles Mysteriösen und Drohenden in der europäischen Kultur, also als die ‚andere Seite’ Europas mit ein. Ein ‚wildes Europa’, bewohnt von anmaßenden Nationen, die unfähig waren und sind, sich selbst zu regieren. Zwar nur einen Schritt von der europäischen Zivilisation entfernt, stellt er einen Raum dar, der im Namen ziviler Missionen und im Namen der Menschenrechte bekehrt werden müsse. Dies ist der Balkan: ein selbst zerstörendes Loch in der Weltgeschichte, ein endloses Reservoir von Gewalt und Negativität, eine chaotische Lücke in der Weltzeit.

Ein neuer theoretischer Ansatz

In letzter Zeit hat nun eine Gruppe progressiver und radikaler Balkanist/innen (balkanologists) einen ernsthaften theoretischen Versuch unternommen, diesen ‚eurozentristischen Spiegel’, der das Bild des Balkans immer schon und notwendig verdreht, zu korrigieren. In einigen Ansätzen wird das vorherrschende Bild vom Balkan mit Hilfe kritischer postkolonialer Studien als ‚nistender Orientalismus’ (nesting orientalism) dekonstruiert. Andere wiederum, wie Tamara Vukov in ihrer schönen Analyse des ‚Neo-Balkanismus’, lokalisieren den Balkan mehr in der historischen Wirklichkeit des globalen Kapitalismus.

Die Geschichte des Balkans ist sicher auch als eine Geschichte diskursiver Gewalt zu lesen, die der ‚europäischen Türkei’ von Seiten Europas mit jener abfälligen Rhetorik zugefügt wurde. Gleichzeitig scheint es mir aber unmöglich, dies außerhalb der globalen hegemonialen Ordnung und seiner Technologien der Macht zu begreifen, in der ‚race’ und Arbeit, Raum und Völker gemäß den Bedürfnissen des Kapitals und des Nutzens für die europäischen Gesellschaften artikuliert werden.

Darüber hinaus ist die Unterscheidung von Enrique Dussell von ‚zwei Modernen’ wichtig. Dussel unterscheidet die eurozentristische, provinzielle und regionale Moderne von der Welt orientierten Moderne. Letztere schließt das, was beherrscht, ausgenutzt, und verborgen wurde – also die ‚andere Seite’ – mit ein. Unschuldig ist auch diese Moderne keineswegs. Denn sie müsse das vormals verleugnete „Andere“ (Alterität) bestätigen, um dann erst die verborgene ‚andere Seite' der Moderne, die periphere Kolonialwelt, sehen zu können. Die Alterität und Exterritorialität des Balkans (sowie seiner weißen aber nicht ganz weißen Einwohner/innen) sollten wir uns nicht als rein und unberührt vorstellen. Denn es ist ein Außen (und Innen), das erst durch Differenz im hegemonialen Prozess konstituiert wurde.

Um die neuen – und eben auch nicht so neuen – historischen Verflechtungen von ‚balkanen’ und nationalistischen Diskursen zu verstehen, braucht es deswegen auch ein eigenes, neues, emanzipatorisches Forschungsprogramm. Eins, das ein anderes Denken vom Verhältnis zwischen und Grenzziehung von Innen und Außen ermöglicht und das ich eine Balkanologie von unten nennen möchte. Wenn Differenz hinsichtlich alternativer lokaler und regionaler Welten gedacht wird, wenn die erkenntnistheoretische Kraft lokaler Geschichten wie auch einer Theoriebildung, die durch die politischen Praxen subalterner Gruppen hindurch geht, ernst genommen wird, liegt hier ein immens radikales Potenzial.

Geschichte des antiautoritären Balkans

Radikale Balkanologie sollte allerdings der Geschichtsschreibung von unten folgen, die lange schon den Spuren der vielköpfigen Hydra von Rebell/innen, Revolutionär/innen und verborgenen Geschichten von Volkskämpfen folgt. Die Geschichte des antiautoritären Balkans ist voller Kämpfe von Piraten und Landpiraten, von Ketzern und landwirtschaftlichen Rebell/innen aller Art, von Freiheits- und Guerillakämpfer/innen (hajduks und uskoci). Kämpfe und Geschichten, die von kommunistischen und nationalistischen Historikern gleichermaßen missverstanden wurden.

Ein Thema könnte die Geschichte des Balkanföderalismus von unten sein, der auf dem horizontalen Grundsatz, auf einem ‚organischen Commonwealths der Nationen’ beruht, wie dies schon von Markovic and Botev als staatenlose Föderation, als Ergebnis sozialer Revolutionen anstelle zwischenstaatlicher Arrangements und als Konföderation traditioneller südslawischer ländlich-agrarischer Gemeinschaften skizziert wurde. Generell sollten wir uns ein Projekt, das subalterne Kenntnisse und Kämpfe in neuer Weise offen legen will, als ein multi- oder trans-disziplinäres Unterfangen vorstellen. Dies könnte helfen, die Vergangenheit und Zukunft vom „eurozentristischen Spiegel“ zu befreien, der unser Bild notwendigerweise immer verdreht.

Autoreninfo

Andrej Grubačić ist in der Gruppe „Bewegung für die Freiheit“ und Gründungsmitglied von „Global Balkans“, ein Netzwerk mit internationalistischer und pan-balkananistischer Perspektive, das politische, soziale und wirtschaftliche Kämpfe im Balkangebiet fördert. Kontakt: globalbalkans@gmail.com[1]. Eine ausführliche Fassung dieses Artikels ist in Englisch bei ZNet unter: www.zmag.org/znet/viewArticle/22291[2] mit dem Titel „Don’t Mourn, Balkanize“ am 12. August 2009 erschienen.


Links:

  1. globalbalkans@gmail.com
  2. http://www.zmag.org/znet/viewArticle/22291