postneoliberale suchprozesse

Zur Notwendigkeit eines gegenhegemonialen Projekts

Sonja Buckel

Der Zombie Neoliberalismus

Inzwischen ist das neoliberale Projekt unwiderruflich in die Krise geraten. Doch welches alternative Projekt folgt darauf? Da sich die Kräfteverhältnisse nicht verschoben haben, entsteht zunächst nichts Neues. Die neoliberale Praxis ist delegitimiert, zugleich scheint es nichts außerhalb ihrer zu geben. Die postoperaistische Linke spricht daher von einem „Zombie“: „Zombies laufen umher und erzeugen entsetzliche Verwüstungen, aber in ihnen ist kein Leben mehr“,1 schreibt Michael Hardt. Der Begriff des Zombies bringt den Zustand einer Gesellschaftsformation auf den Begriff, die sich überlebt hat: Das Gesamt einer sozialen Ordnung, die aus miteinander verwobenen ökonomischen, politischen, diskursiven Praxen besteht, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg reproduziert und so auf Dauer gestellt sind. Historisch und räumlich haben sich sehr verschiedene kapitalistische Formationen entwickelt. Der Neoliberalismus ist nur eine von ihnen, bestehend aus einer politisch-ökonomischen Entwicklungsweise und einer Weltanschauung, die sich im ganzen Gewebe der Gesellschaft verbreitet hatte. Der Neoliberalismus war hegemonial. Er war keine große Maschine, die uns wie ein Zwangsapparat beherrschte. Er war auch ein politökonomisches Programm, das mächtigen Interessen diente, aber von jenen nicht einfach verordnet werden konnte. Vielmehr steht mit dem Ende des Neoliberalismus eine moralisch-politische Führungstechnologie auf dem Spiel, die selbst die alltäglichen Routinen in Richtung einer Wettbewerbsgesellschaft lenkte, welche sogar von jenen obsessiv wiederholt wurden, die am meisten unter ihnen zu leiden hatten. Die vermeintliche Alternativlosigkeit ist nur der Ausdruck der einstigen Hegemonie dieser Konstellation.

Hegemonie in Zivilgesellschaft, Politik, Recht

Der Suchprozess aus dieser Krise führt in eine postneoliberale Konstellation, in der noch unverbundene Praxen gegen die Kräfte der alten Ordnung um ein neues Projekt ringen. Hegemonie stellt sich nicht einfach ein, sondern muss organisiert werden. Die Organisator_innen der Hegemonie nannte Gramsci „Intellektuelle“. Es handelt sich nicht um die kontemplativen Denker, wie beim idealistischen Intellektuellenbegriff, sondern um diejenigen, denen es gelingt, die unhinterfragten Überzeugungen zu formulieren und den Platz für legitime Sichtweisen zuzuweisen. Waren dies im Feudalismus vor allem Geistliche, so haben heute Think Tanks oder Journalist_innen diese Rolle übernommen, aber auch Talkshow-Gäste, und Schauspieler_innen, deren Verhaltensmuster Modell sind, „das von Millionen als Subjektivierungstechnologie angeeignet [...] wird.“2 Ein gegenhegemoniales Projekt muss auf vielen Ebenen operieren, um eine neue Lebensweise zu etablieren. Es wird von einer Vielzahl von Praktiken, Subjektivitäten, Kämpfen und Projekten vorangetrieben, selbst wenn diese nichts voneinander wissen. Es ist dabei verwickelt in den Kampf unterschiedlicher Hegemonie-Projekte. In ihnen verdichten sich vielfältige Strategien, in denen Akteur_innen versuchen ihr partikulares Interesse zu verallgemeinern. Gelingt es einem Projekt, seine Interessen einigermaßen kohärent zu universalisieren, handelt es sich um ein hegemoniales Projekt, das sich in den zivilgesellschaftlichen Institutionen festsetzt. Zu einem politischen oder Staats-Projekt wird ein solches hegemoniales Projekt dann, wenn es sich in die staatlichen Apparate einschreibt. Dies war dem neoliberalen Projekt gelungen: Es verklammerte Kritiken am Bürokratismus und Paternalismus mit einer Strategie zur Schwächung der Gewerkschaften und einer Aushöhlung des Wohlfahrtsstaates unter dem Label des „Rückzug des Staates“.

Zu einem juridischen Projekt wird das hegemoniale Projekt, wenn es auch im Rechtsdiskurs ausgearbeitet wird. Zivilgesellschaft, Politik und Recht haben ihre eigenen Spielregeln und ihre eigenen Intellektuellen. Eine gesellschaftliche Hegemonie stellt sich erst dann her, wenn die Gesellschaft als Ganzes der neuen Rationalität folgt. Die EU zeigt dabei, wie fragil die Legitimation politischer Herrschaft bleibt, wenn Hegemonie-Projekte sich in politischen und juridischen Projekten einer administrativen Elite ohne zivilgesellschaftliche Verankerung niederschlagen.

Vielfältigkeit der Strategien

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum ein bloßes Auswechseln des politischen Personals keine gesellschaftlichen Veränderungen bewirkt. Erst wenn dies Ausdruck eines hegemonialen Projektes ist, können die politischen Intellektuellen die neuen Praxen in den Politikprozessen absichern. Ein postneoliberales gegenhegemoniales Projekt speist sich aus den abweichenden Wünschen, aus alternativen Praxen und Denkweisen und wird durch tausende von Strategien vorangetrieben, die in ihrer Vielfältigkeit von niemandem vorhergesehen werden können. Die Multitude hat kein Steuerungszentrum, sondern greift von vielen Punkten aus an. Sie strebt die Veränderung sowohl der Alltagsroutinen als auch der institutionellen Praktiken an. Der Versuch, einen Teil dieser Kräfte in einem neuen Crossover-Institut zu bündeln, zielt darauf, ein gemeinsames Projekt zu formulieren, das eine Antwort auf die Krise der sozialen Reproduktion gibt, das neue Begriffe setzt, Korridore für neue Praxen öffnet und dabei mögliche Differenzen fruchtbar macht. Ein solches gegenhegemoniales Projekt, das nicht nur materielle Bedürfnisse, sondern auch affektive Imaginationen in eine politische Vision einbindet,3 ist die Voraussetzung, um den Schwebezustand zu beenden, in dem die alte zerstörerische Praxis weiter Unheil anrichten kann.

Anmerkungen

1 Interview mit Michael Hardt, „Wir müssen verstehen, wer der Feind ist“, in: Spiegel-Online, 24.03.2010.

2 Alex Demirović, Hegemoniale Projekte und die Rolle der Intellektuellen, in: Das Argument 239/2001, 59 ff.

3 Leo Bieling/Jochen Steinhilber, Hegemoniale Projekte im Prozess der Europäischen Integration, in: Dies., Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie. Münster 2000, 102-130.

Autor_innen-Info:

Sonja Buckel ist zur Zeit Gastprofessorin für Critical Governance Studies an der Universität Wien und eine der vier Sprecher_innen des Kuratoriums des Instituts Solidarische Moderne. Sie ist Herausgeberin des Buches: Hegemonie gepanzert mit Zwang – Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, Baden-Baden 2007 (gemeinsam mit Andreas Fischer-Lescano).