28.06.2010

Von Klinsi lernen…

Der etwas andere Kommentar zur Patriotismus-Debatte

Katja Kipping
Im Stadion von FC Barcelona, der Spielstätte von Messi

2006 zur Fußball-WM in Deutschland schrieb ich angesichts des entflammenden Patriotismus einen Kommentar "Von Klinsi lernen". Heute, vier Jahre später, stellte ich beim erneuten Lesen fest, dass dieser Kommentar womöglich gar nicht so unaktuell ist. Zwar heißt der Trainer nun Löw statt Klinsmann und aus der großen Koalition wurde inzwischen eine schwarz-gelbe Koalition. Aber nach wie vor gilt, es lohnt sich, sich nicht von BILD & Co. kirre machen zu lassen und jeden Patriotismushype kritisch zu hinterfragen. Aber lest selbst. Und wer Lust auf mehr Patriotismuskritik hat, dem sei die Ausgabe 5 des prager frühlings [1]empfohlen.

Im Spiel gegen Schweden am Samstag überzeugte die Nationalmannschaft selbst Skeptikerinnen wie mich.Aus ästhetischen Gründen setze ich sonst eher auf Brasilien und Argentinien.

In den letzten Tagen konnte man sich im deutschen Bundestag vor den konservativen Nationalisten kaum retten: Sie vereinnahmen die spielerischen Erfolge der deutschen Elf für sich, als ob die geschossenen Tore “unserer Jungs“ irgendwas mit der erfolglosen Politik in diesem Land zu tun hätten. Das hat Methode. Der aufkommenden Nationalhype soll von den sozialen Grausamkeiten der Großen Koalition ablenken, die zeitgleich im Zuge des Haushaltes beschlossen wurden: die weiteren Verschärfungen von Hartz IV, die Mehrwertsteuererhöhung und die Begrenzung des Kindergeldes. Die Rechnung der Konservativen ging leider bestens auf. Die Springer-Presse und CDU-Politiker wie Volker Kauder missbrauchen die Erfolge des deutschen Teams und das Bedürfnis der Fans nach Feiern unter freien Himmel bei Bier und Sonnenschein. Sie wollen die nationalismuskritischen Lehren aus unserer Geschichte vollständig entsorgen. Mit diesem Versuch, von der WM die falschen Lehren zu ziehen, stehen sie nicht alleine.

Ihnen sei ins Stammbuch geschrieben: Es tatsächlich einiges vom neuen Trainer der Nationalmannschaft, Jürgen Klinsmann zu lernen. Zuerst sorgte der Kalifornische Wohnsitz des Trainers, eine rein private Angelegenheit, für viel Aufregung in den Medien. So unkonventionell wie seine private Entscheidung waren auch die neuen Trainingsmethoden, die Jürgen Klinsmann einführte. Dazu gehört eine enge Kooperation jenseits von eitlen Egomanentum mit seinem Co-Trainer Jogi Löw. Von Anfang an setzte er auf jüngere, bisher weniger bekannte Spieler. Damit war natürlich ein gewisses Risiko verbunden. Die Spieler waren noch nicht entsprechend auf einander eingespielt und das neue Team startete mit Problemen bei den Testspielen. Die entsprechende Schmähkampagne in der BILD folgte prompt. Doch Klinsmann ließ sich von den Hetztiraden nicht beirren. Der bisherige Erfolg der Nationalmannschaft gibt ihm Recht.

Unter seiner Leitung erfolgte der Wechsel von einer schwerfälligen Spielweise hin zu einem attraktiven Kombinationsfußball. Statt des bekannten Oliver Kahn machte Klinsmann den bisher zweiten Torwart Jens Lehmann zur Nummer eins., Damit bewies er erneut seine Bereitschaft, unorthodoxe Entscheidungen zu treffen und diese auch durchzuhalten

Nicht unerwähnt bleiben kann in diesem Zusammenhang, die freundliche und sichere Bescheidenheit von Jürgen Klinsmanns, die nun wahrlich nichts mit dem Nationalstolz gemein hat, der Leuten wie Kauder aus allen Poren trieft.

Wenn es also etwas gibt, das wir uns vom Trainer der gerade so umjubelten Nationalmannschaft abgucken können, dann die Kraft gegen den Strom zu schwimmen, die Bereitschaft einen Wechsel einzuführen, Teamgeist und das Selbstbewusstsein, sich nicht von Hetzkampagnen der BILD kirre machen zu lassen. Die Politik in der BRD sollte von Klinsmanns Wechsel in der Spielweise lernen: Auch wir müssen uns von den erfolglosen neoliberalen Rezepten der letzten Jahre verabschieden und einen Politikwechsel einleiten– und zwar hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie.

Und noch ein Aspekt der Nationalmannschaft sei den Kauders und Bild-Redakteuren dieser Welt ins Stammbuch geschrieben: Die Verankerung in einem anderen Land hat den methodischen Ansatz des Nationaltrainers positiv inspiriert. Das deutsche Team entspricht in seiner Zusammensetzung.

dem Einwanderungsland Deutschland. Es wird Zeit, dass die Politik nachzieht und ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht dafür sorgt, dass alle hier Lebenden mit gleichen Rechten am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können- nicht nur auf dem Fußballplatz.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/topic/14.einzelheft_bestellen.html