07.07.2010

Staatliche Herrschaft – ein blinder Fleck im Programmentwurf

Alex Demirović

„Die Linke“ handelt politisch in der Spannung, daß sie als parlamentarische Partei an Wahlen, an der öffentlichen Willensbildung und parlamentarischen Entscheidungen, also an der repräsentativ-demokratisch verfassten Staatsgewalt teilnimmt. Gleichzeitig zielt sie, dem neuen Programmentwurf zufolge, darauf, mittels Politik, gesetzlichen Regelungen und administrativen Maßnahmen alle gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden, in denen Menschen ausgebeutet, entrechtet und entmündigt werden; grundlegende Veränderungen der herrschenden Eigentums-, Verfügungs- und Machtverhältnisse, Demokratie und Freiheit ohne Ausbeutung und Unterdrückung sind Ziel. Zu recht wird auf dem demokratischen Weg bestanden, dieses Ziel zu erreichen. Obwohl der Einschätzung des Staates durchaus eine wichtige Rolle zukäme, bleibt er im Programmentwurf eine Blindstelle. Das birgt zwei Gefahren für die Linke: die der Überschätzung, da der Staat überschätzt wird hinsichtlich dessen, was mit ihm erreichbar ist; die der Unterschätzung hinsichtlich seiner Gefährlichkeit.

Denn gerade als eine und vielleicht sogar die fürchterlichste Form der Machtausübung kommt ebenso wenig in den Blick wie andere Formen: das Recht, die Gefängnisse, die Medizin und Psychiatrie, die Wissenschaften, die Schulen und das Elternhaus.

Das Programm liest sich ökonomistisch, so, als seien nur der Kapitalismus, der Neoliberalismus, die Oligopole Herrschaft. Die Folge ist zu viel Vertrauen in den Staat. Das Verhältnis von Kapitalismus, Ökonomie, Markt und Herrschaftsverhältnisse auf der einen Seite und Politik, Demokratie und Staat auf der anderen Seite erscheinen als eine Art Nullsummenspiel. Wenn der Kapitalismus zu stark wird und sich entgrenzt, dann scheint dies zu Lasten der Politik zu gehen: die Staaten werden als „Geiseln der Vermögensbesitzer“ beschrieben. Deswegen muß nun gegengesteuert und der Kapitalismus erneut gefesselt werden. Es ist davon die Rede, daß die Dominanz des kapitalistischen Eigentums keine Vormacht mehr haben solle, die Renditefixierung zurück gedrängt werden müsse. So wird der Eindruck erweckt, als seien Politik, Staat und Recht nicht auch ihrerseits kapitalistisch. Aber seit Marx‘ Überlegungen zur „Judenfrage“ gehört es zu den kritischen Einsichten, daß die Trennung des Allgemeinwohls vom egoistischen Individualinteresse, der Gegensatz von Einzelnen und dem vom Staat verkörperten Gesamtinteresse, die Verselbständigung der Gattung gegenüber den Individuen, selbst ein wesentliches Merkmal moderner Herrschaft ist. Alle bisherigen Versuche der Demokratie waren nur Flickschusterei, diese Kluft notdürftig zu überbrücken. So ist der Konflikt auf Dauer gestellt, daß alle gesellschaftlichen Gruppen versuchen müssen, ihre jeweiligen Sonderinteressen als Allgemeinwohlinteressen zu propagieren und alle anderen dagegen immer Protest anmelden. Demokratie bleibt so grundsätzlich gefährdetes Projekt.

Die Abtrennung der Politik von der Gesellschaft, die Herausbildung des bürgerlichen Rechtsstaats, die Erfolge der sozialen Bewegungen, der staatlichen Herrschaftsorganisation Kompromisse aufzuzwingen und ihn demokratisch und sozial zu verfassen, sind große Schritte der Emanzipation gewesen. Doch diese Emanzipation ist gleichzeitig mit engen Grenzen für die gesellschaftliche Selbstbestimmung und Demokratie versehen worden. Das staatlich definierte Allgemeinwohl ist vorrangig das der Kapitaleigentümer. Der Staat organisiert die Kompromisse zwischen diesen und den vielfach der Macht Unterworfenen, er organisiert aber vor allem den Ausgleich zwischen den verschiedenen Kapitaleigentümergruppen, so daß sie nicht befürchten müssen, gegenüber den anderen benachteiligt zu werden: bei Steuern, Subventionen, Sozialstandards, Infrastrukturen oder Zugang zu kostenlosen Gemeingütern wie Sicherheit, qualifizierten Arbeitskräften oder Forschungsergebnissen. Welche der Eigentümergruppen sich bei der Definition der staatlichen Aufgaben, dessen, was als öffentlich gilt, durchsetzt, ist Gegenstand vieler Konflikte und veranlasst die herrschenden Kräfte, Bündnisse mit Gruppen der Bevölkerung einzugehen. Aber mit der transnationalen Akkumulation von Kapital verlieren solche Kompromisse auf nationalstaatlicher Ebene an Bedeutung. Machtvolle Entscheidungen verschieben sich auf die informellen Governance-Mechanismen der europäischen oder globalen Ebene. Diese politisch-staatlichen Kräftekonstellationen bleiben im Programm unbestimmt.

Wenn nun auf politischem Wege neben der privaten andere Eigentumsformen verstärkt durchgesetzt werden: genossenschaftliche, staatliche, kommunale, öffentliche, Belegschaftseigentum, dann ist das zunächst unproblematisch. Denn diese Vielfalt haben wir schon längst. Ein dreifaches Problem entsteht wahrscheinlich, wenn vermehrt gesellschaftliche Ressourcen für solche neuen Eigentumsformen aufgeboten werden und sie zu ernsthaften Konkurrenten von Kapital werden. Sind sie auf Dauer ökonomisch mit global operierenden Unternehmen konkurrenzfähig? Es wird Widerstand und Versuche geben, solche Projekte scheitern zu lassen – wie ist damit demokratisch umzugehen? Es bedarf neben der gesellschaftlichen auch der staatlich verfassten Macht, die dazu beiträgt, solchen Formen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Demokratie Raum zu gewähren. Doch wie kann eine solche staatliche Macht erreicht werden? Vor allem, wie kann sie selbst demokratisch ausgeübt und kontrolliert werden? Demokratie aber bedeutet, daß in einem offenen demokratischen Diskussionsprozeß um Mehrheiten gerungen wird. Allein auf der Ebene von parlamentarischen Wahlen und Willensbildungsprozessen jedoch lassen sich solche weitreichenden Mehrheitsentscheidungen nicht dauerhaft absichern. Mehrheiten können heute dies und morgen anderes beschließen. Wenn die Beschlüsse schließlich die Form von Gesetzen annehmen, heißt dies noch lange nicht, daß in den öffentlichen Verwaltungen entsprechend gehandelt wird. Es bedarf also breit getragener Willensbildungsprozesse, die auf Transformation zielen. Deswegen stellen sich die Fragen nach den konkreten Transformationen, den möglichen Bündnissen, den konkreten Formen der demokratischen Beteiligung.

Auf diese Aspekte geht das Programm nicht ein, sondern beschwört den national verstandenen demokratischen Rechts- und Sozialstaat: es heißt, Rechtsstaat und Sozialstaat sollen eine Einheit bilden – aber das haben wir laut Grundgesetz schon. Weiter: Menschenrechte, Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaat sollen entwickelt werden. Das ist zu begrüßen, auch wenn der bislang bekannte Rechtsstaat mit seiner Blindheit für die einfachen Leute und seinen Repressionen oder der Sozialstaat mit seinen disziplinären Methoden nur bedingt zur Überwindung von Entwürdigung beigetragen haben. Sicherlich ist die Einführung von Volksentscheiden sinnvoll, auch wenn das letztlich nur Geringes an Demokratisierung bringt. Der Staat soll mittels Rahmensetzung und Kontrolle die Marktsteuerung unterordnen. Das alles bleibt im Rahmen des Gegebenen, ja, sogar an der Logik des Profits, also auch an den Folgen der Entwürdigung, wird festgehalten. Es stellt sich die Frage, wie sich diese Schritte der Bewahrung, Vertiefung und des Ausbaus des nationalen Rechts- und Sozialstaat zum ersten im Kontext transnationaler Kapitalakkumulation und staatlicher Herrschaftsausübung bewerkstelligen lassen und zweitens mit der sozialistischen Transformation verbinden. Ist das eine Unklarheit, eine widersprüchliche Zielsetzung, sind es Phasen im Prozeß der Emanzipation? Das Programm will viel und bleibt dennoch an relevanten Punkten einseitig und vage. Überzeugen und Fortschritt bringen wird es am Ende nur, wenn die Leute wissen, auf welche Risiken sie sich einlassen, wenn sie in ihrer Unzufriedenheit und in ihrem alltäglichen Widerstand die Vorschläge der Linken aufnehmen, und wie sie so bewältigt werden können, daß hinterher nicht alles schlechter gewesen sein wird.