crossover: lernen und/oder regieren?

Benjamin Hoff und Robert Zion im Streitgespräch

prager frühling: Was gefällt euch eigentlich bei der jeweils anderen Partei besonders gut?

Benjamin Hoff: Ich glaube die Stärke der Grünen besteht darin individuelle Freiheitsrechte nicht sozialen Rechten gegenüber zu stellen. Das ist ein unzweifelhafter Vorteil einer grünen Bürgerrechtspartei gegenüber einer bedauerlicherweise noch nicht ausreichend entwickelten sozialistischen Bürgerrechtspartei.

Robert Zion: Ich finde es ausgesprochen gut, dass mit der Partei Die Linke ein Teil der Bevölkerung eine parlamentarische Vertretung erhalten hat, der aus den politischen Prozessen zuvor herausgefallen ist. Es ist gut für die Demokratie, dass jene heute eine Stimme erhalten haben, die im Zeitalter des Neoliberalismus unter die Räder gekommen sind.

PF: Benjamin, du sprichst häufig von radikalreformerischer Politik. Inwiefern grenzt sich das denn von gängiger Reformpolitik ab?

Hoff: Radikalreformerische Politik versucht Reformen zu definieren, die geeignet sind, im hier und jetzt zu beginnen, aber gleichzeitig immer über diese Dimension hinausweisen. Wenn also über sozial-ökologischen Umbau gesprochen wird, so ist das nicht zu trennen von Reichtums-Umverteilung und mehr Mitbestimmung. Ökologische Gerechtigkeit ist soziale Gerechtigkeit und gerät zwangsläufig in Konflikt mit Machtfragen und Konzerninteressen. Radikale Reformen begreifen Politik als realpolitischen und dialektischen Prozess.

PF: Robert, du beziehst dich vor allem auf den Begriff Transformation. Geht das in die gleiche Richtung wie Benjamins radikalreformerische Politik?

Zion: Im Wesentlichen teile ich das. Transformation ist natürlich ein Begriff, der versucht den alten Gegensatz zwischen Bernstein und Luxemburg vergessen zu lassen, aber eben nicht aufzulösen. Hier sehe ich mich in einer postmodernen Tradition und setze mich eher für ein differentielles Denken ein. Ich glaube daher, dass der alte Gegensatz zwischen den Staat kapern und den Staat reformieren hinfällig geworden ist. Wir müssen auch selbstkritisch sein. Ich sage auch immer: Wenn jemand sagt, ich möchte Sozialismus, sage ich: War auch scheiße.

Heute gilt es im Sinne einer pluralen Organisation zu denken entsprechend Hardt/Negris Konzept der Multitude. Das heißt, dass sowohl Regierungspolitik, die reformerisch ist in dem Sinne, dass sie an die Wurzel der Probleme geht, als auch politische Widerstandsformen, wie sie sich in Lateinamerika beobachten lassen oder auch in Deutschland bei Bildungsstreiks, ihre Berechtigungen besitzen und ein gemeinsames Bild ergeben können. Ich würde vielleicht noch etwas zur ökologischen Frage ergänzen wollen. Hier haben die Strukturfragen immer etwas mit den Größeneinheiten zu tun, die man organisiert. Man wird schlichtweg zu kleineren Einheiten kommen müssen. Wir brauchen mehr Selbstverwaltung, -verantwortung, -bestimmung um Machthierarchien herauszunehmen.

PF: Es geht also darum, bestehende Machtstrukturen in Frage zu stellen. Ein Projekt, das du stark machst ist das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Entspricht das BGE oder ein anderes Projekt radikalreformerischer Politik?

Zion: Die Bürgerversicherung, in die alle Einkommensarten ran müssen, ist ein wichtiges Projekt. Die Debatte um das Grundeinkommen ist ein Prozess, der Dinge sichtbar machen kann, trotz des normierten medialen Diskurses. Man wird sehr offen über die Zukunft der Arbeit sprechen müssen, sonst werden wir weitere Verwerfungen in der Gesellschaft erleben, insbesondere weil sich der Wandel nicht mehr administrieren lässt. Die fehlende Begriffsbildung über den Wandel der Arbeitsgesellschaft macht uns unfähig die Vorgänge zu begreifen und führt zu einer schlechten Politik. Vorerst ist das BGE auf dem Weg diese Auseinandersetzung anzustoßen. Ob es denn ein weiterführendes Projekt wird und mit wem, ist unklar bzw. schwer vorauszusagen.

PF: Um vielleicht etwas konkreter zu werden: Gibt es ein vorstellbares Bündnis, das das BGE als Projekt tragen könnte?

Hoff: Ich halte es für fraglich, dass das BGE ein realistisches Projekt für eine rot-rot-grüne Regierung sein könnte und sollte. Aber das BGE hat das Potenzial eines radikalreformerischen Projektes, da es zur Diskussion und zum Nachdenken über bestehende Verhältnisse anregt. Im Regierungsfalle würde man sich auf Zwischenschritte verständigen müssen und diese Zwischenschritte würden Gegenstand von hoffentlich konstruktivem Streit sein. Derzeit ist unklar, ob sich eher gewerkschaftlich geprägte Kritiker – deren Skepsis ich teile – und emanzipatorische Befürworter des BGE miteinander verständigen können. Dazu bedarf es eines entsprechenden Umfeldes aus Initiativen, kritischer Wissenschaft und Verbänden, das die Parteien und ihre Debatten trägt und sich daran beteiligt.

PF: Robert, deine Partei hat von 1998 bis 2005 mitregiert. Rot-Grün ist auch einmal als Reformprojekt gestartet. Woraus muss man seine Lehren ziehen, wenn man ein angestrebtes Projekt neu denkt?

Zion: Rot-grün hat eine gesellschaftliche Liberalisierung geleistet. Die Homoehe ist nur ein Beispiel, aber man hat auch endlich mal darüber geredet, wie schlimm mit Migrantinnen oder Flüchtlingen umgegangen wird. Im ökologischen Bereich hat man vieles angestoßen. In der Außenpolitik ist man in der Wirklichkeit angekommen, um das mal so krass zu sagen. Rot-Grün hat den Kosovo Krieg nicht geführt, sondern mitgemacht. Das mag haarspalterisch klingen, aber es besteht ein Unterschied. Die Alternative wäre ganz klar gewesen, in die Opposition zu gehen und dann auch im Bundestag als nicht regierungsfähig zu gelten. Das ist in meinen Augen kein Opportunismus. Es ist einfach das Fahrwasser, in welches man außenpolitisch hineingerät. Deshalb müssen wir uns Gedanken darüber machen, was eine internationale Friedenspolitik sein kann, jenseits des klassischen Nationenrechts und des daraus abgeleiteten Völkerrechts. Ich glaube, das Völkerrecht und die Vereinten Nationen sind dermaßen geschwächt worden in dieser ganzen Phase seit der Jahrtausendwende, dass wir in der Frage globaler Friedenspolitik eine Art Weltbürgerrecht brauchen wie Hardt und Negri es nennen.

PF: Wie lässt sich denn vermeiden, dass man in ein solches von außen bestimmtes Fahrwasser hineinkommt? Wie müsste ein solches Projekt aussehen?

Zion: Es lässt sich nicht vermeiden in dieses Fahrwasser hineinzugeraten. In einer Bundesregierung kann man nicht einfach den Bankensektor verstaatlichen mit den großen Börsenplätzen und internationalen Verträgen im Rücken. Dabei wird man sich darauf einlassen müssen, dass nur halbgare Lösungen herauskommen. Es ginge dann darum, entsprechende Institutionen aufzubauen, die die alten ersetzen. Ein weiterer Gedanke: Ihr habt ja eure Wähler und wir haben unsere Wähler, aber diese Interessen unserer Wähler lassen sich zusammenführen. Wir haben eher die gebildeten Eliten, in dem was Richard Florida die „creative class“ nennt. Und bei euch, obwohl sich auch hier neue Tendenzen abzeichnen, die klassische Arbeiterschicht. Die gesellschaftlichen Gruppen mitzunehmen, die Interessen zusammenzuführen und dann ein Projekt zu initiieren, das dann auch durchschlagen wird gegen Widerstände.

PF: Benjamin du hast ja auch schon ein bisschen Regierungserfahrung. Welche Fehler kann man möglicherweise vermeiden und was ist gut gewesen?

Hoff: Ich würde zwei Ebenen voneinander trennen. Aus meiner Sicht ist ein Crossover- Prozess, der sich nur auf drei Parteien bezieht, interessant aber unbefriedigend. Es muss uns gelingen, dass die drei Parteien und das ihnen nahestehende gesellschaftliche Umfeld gemeinsam diskutieren. Dies erst schafft den erforderlichen gesellschaftlichen Resonanzboden, den politische Vorhaben einer Reformregierung benötigen, der sie trägt und auch gegebenenfalls gegen große Widerstände verteidigt. Je besser ein Crossover-Prozess funktioniert, umso stärker entstehen gesellschaftliche Bündnisse, die sich dann auch in Parteien abbilden werden. Wir dürfen nicht vergessen: Parteien bestimmen die gesellschaftliche Debatte immer weniger. Sie benötigen daher eine hohe Sensibilität, gesamtgesellschaftliche Diskurse aufzunehmen.

Die normative Überhöhung einer Regierungsbeteiligung teile ich so nicht, weil sie diesen überhöhten Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Deshalb muss ein Crossover-Prozess immer weitergehen als das was ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis machen könnte.

PF: Konkret hieße das?

Hoff: Das heißt, jetzt Regeln für eine Regierungsbeteiligung aufzustellen macht keinen Sinn, weil die kommende Situation eine andere sein wird, als die jetzige. Regierungen sind Kompromissinstrumente und sie haben deshalb immer eine Begrenztheit. Es wird deshalb aus linker Perspektive nie eine wirklich gute Linksregierung geben. Weil zum Regieren immer gesellschaftliche und zuerst koalitionäre Kompromisse gehören. Deshalb ist die Überhöhung und Fokussierung auf ein mögliches rot-rot-grünes Regierungsbündnis weniger spannend als die Diskussion, die über ein radikalreformerisches gesellschaftliches Bündnis geführt werden müsste. Hier haben wir aber ein morbides politisches Umfeld. Gewerkschaften brechen die Mitglieder weg, die globalisierungskritische Bewegung ist in der Wirtschaftskrise kaum spürbar. Andererseits: 2009 gab es einen unheimlich guten Bildungsstreik, der deutlich erfolgreicher gewesen ist als jene Mitte der Neunziger. Gleichzeitig haben wir die schlechteste Hochschul- und Schulorganisierung seit Jahrzehnten. Neue Handlungsmöglichkeiten müssen erschlossen werden wie z.B. Formen von „organizing“-Politik. Der Crossover-Prozess soll durchaus zu einer Linksregierung führen. Aber die Regierung ist immer nur ein Teil politischer Veränderung und radikalreformerisch vermutlich nicht der entscheidende. Das habe ich wohl in der Zeit bevor ich selbst in die Regierung gegangen bin auch noch ein bisschen anders gesehen.

Zion: Es geht weiterhin um die Demokratisierung der Gesellschaft. Endlich muss die Demokratie durch die Werkstore gelassen werden, eine Aufgabe, die die Gewerkschaften früher noch lauter vertreten haben als heute.

PF: Uns würde natürlich auch noch die Frage nach den sozialen Bewegungen interessieren. Seht ihr Ansätze bei den Bewegungen und eine gemeinsame Grundlage?

Hoff: Was wir heute im Crossover-Prozess nicht mehr machen können, ist davon auszugehen, dass wir als Parteien in der Tradition der ArbeiterInnenbewegung einen großen Teil sozialer Bewegungen internalisieren. Wir haben zwar Mitglieder die Verknüpfungen zu diesen Organisationen besitzen, aber die Organisationen existieren ohne die zwingende Bezugnahme auf die Parteien. Deshalb müssen wir uns die Mühe machen, diese Bezüge herzustellen. Obama hat dies zeitweise geschafft. Dadurch entstand Mobilisierung, Veränderung – siehe die Gesundheitsreform. 30 Millionen Menschen sind jetzt in den USA mehr krankenversichert. Politik ist die kollektive Durchsetzung von Interessen.

PF: Die Linkspartei lässt sich ja als Partei alter Ordnung verstehen, während die GRÜNEN als Partei neuer Ordnung entstanden sind. Gibt es formale Ansätze die Modernisierungspotenziale besitzen und Ideen aus den sozialen Bewegungen aufgreifen?

Hoff: Parteien sind in zunehmendem Maße weniger Mitgliederparteien, sondern werden Wählerparteien. Es hat in den neunziger Jahren schon Modernisierungsversuche gegeben, z.B. durch das Internet und Probemitgliedschaften. Das sind alles Versuche gewesen, mit einem veränderten Organisationbewusstsein umzugehen. Ob linksalternative Parteien für Menschen spannend sind, wird sich daran zeigen, ob sie konkreter Teil gesellschaftlicher Debatte und wirksamer Ort von Einflussnahme sind. Nach 1968 ist es der SPD zeitweise gelungen, als eine authentische Vertreterin dieser Umbruchphase wahrgenommen zu werden. Eine Wiederholung dessen kann man nicht planen oder erzwingen. Aber die klassische Mitgliederpartei – die wird es meines Erachtens nicht mehr geben.

Zion: Erst mal glaube ich, dass man Bewegungen heute nur noch global denken kann. Das betrifft die ökologische Frage, die soziale Frage, die friedenspolitische sowieso aber auch die Bürgerrechtsfrage. Da muss man sich einfach angucken was überall passiert. Am interessantesten finde ich was man eigentlich gar nicht mehr soziale Bewegung nennen kann, sondern soziales Experiment nennen müsste: Zapatisten, Morales in Bolivien. Man kann da einfach viel von diesen Bewegungen lernen. Ich würde mir wünschen, man würde sich mal ansehen, wie Morales die Ölförderung organisiert und welches Politikmodell dort Anwendung findet und eben nicht der klassischen Kategorie entweder verstaatlichen oder privatisieren zuzuordnen ist. So etwas sollte man sich mal zum Vorbild nehmen. Es gibt eine Menge zu lernen.

Autoreninfo

Robert Zion ist Philosoph und Vorstandssprecher der Grünen Gelsenkirchen. Benjamin Hoff ist Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz und bei der LINKEN.