europa – anders und von unten

Die Europäischen Sozialforen von Florenz bis Istanbul

Silke Veth

Während Europa noch mitten im „verlorenen Jahrzehnt“ steckte, fanden 1999 in Seattle massive Proteste gegen das Treffen der Welthandelsorganisation (WTO) statt, im globalen Süden wurden kritische Stimmen lauter, in Lateinamerika kamen linke Regierungen an die Macht. Die altermondialistische Bewegung nahm ihren Beginn. 2001 fand im südbrasilianischen Porto Alegre als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos das erste Weltsozialforum statt. Die Idee war, eine neue Form globaler Organisierung zu schaffen für aktionsorientierten Austausch, Netzwerkbildung, das Ausprobieren neuer Methoden und Kommunikationsformen. Entsprechend dem Motto „Global denken, lokal handeln“ entstanden in der Folge vielfältige lokale, regionale und polyzentrale Zusammenkünfte. Das Europäische Sozialforum (ESF) war und ist dabei eine nicht zu unterschätzende Schnittstelle zwischen der lokalen Arbeit in den einzelnen Ländern, der Bildung einer europäischen Linken und den Weltsozialforen mit ihrer attraktiven Ausstrahlung.

Sozialforen sind durch die historischen Situationen und Orte geprägt: Beim ersten Sozialforum 2002 in Florenz lag Aufbruchstimmung in der Luft. Der Europäische Sozialforumsprozess trug die Chance in sich, AltkommunistInnen, Reformlinke, TrotzkistInnen und Bewegungsmenschen zusammen zu führen. Die Kritik des Neoliberalismus funktionierte als verbindendes Thema. Die Charta von Porto Alegre garantierte den Raum, jenseits trennender Erfahrungen, in Austausch zu treten. Die Bedingungen waren gut: eine starke „Rifondazione“ und eine große Bewegung gegen die neue Berlusconi-Regierung. Ein Aktionstag gegen den Irakkrieg am 15. Februar 2003 wurde verabredet – mit 15 Millionen Menschen in 600 Städten ein großer Erfolg. 2003 in Paris war die Stimmung schon wesentlich gedämpfter. Ohne landesweite Massenbewegung und einen zentralen Veranstaltungsort zerfledderte das Forum. Migrations- und Bildungspolitik entwickelten sich zu wichtigen Achsen. Seit dem dritten ESF 2004 in London wurde das Thema Umwelt relevanter. „Ökonomische Alphabetisierung“ und der Widerstand gegen den Irakkrieg blieben weiterhin wichtige Bezugspunkte der Bewegung. Die Schwächen des Prozesses wurden offensichtlich: Mangelnde Transparenz, fehlende Kompromissbereitschaft, Beharren auf nationalen Prioritäten, Dominanz einzelner Gruppen oder parteiförmiger Organisationen. Die Beteiligung osteuropäischer und nordischer Länder war marginal. Diese Fragen wie auch die stark zerstrittene politische Linke in Griechenland selbst bestimmten auch das ESF in Athen 2006. Mittlerweile existierten kontinuierlich arbeitende Netzwerke, die das Potential haben, neue Leute einzubinden. Eine positive Verschiebung, die aber einige der Grundprobleme, die dann beim ESF in Malmö 2008 einen Höhepunkt fanden, nicht wirklich minderte.

Dennoch: Es gibt einen nunmehr zehnjährigen Verständigungsprozess, europäische Netzwerke wie z.B. transform! oder die „Europäische Linke“ sind im Kontext der Sozialforen gewachsen. Die Sozialforen bleiben symbolischer Kontrapunkt und sind ein wichtiger Ort zur Bildung einer europäischen handlungsfähigen Linken über die EU hinaus. Das ESF hat aber augenscheinlich eine Entwicklungsphase abgeschlossen, die Breite der Bewegung und Vielfalt der Debatten haben den Charme des Neuen verloren. Die Diskussion, ob sich das Forum als offener, strikt anti-hierarchischer Raum oder als kämpferische Bewegung weiterentwickeln will, wird in Istanbul wichtig sein. Aber auch wenn der Prozess schwächelt, bleibt die Idee der Sozialforen ohne Alternative. Und besonders Istanbul ist eine Chance, Dynamik zu entwickeln, AktivistInnen aus Osteuropa zu beteiligen und Europa anders zu denken.