01.09.2010

Leben wir im Zeitalter der Dummen?

Warum tun wir nichts?

Norbert Nicoll

Ja, man reibt sich verwundert die Augen. In China, das im Jahr 2009 zum weltgrößten Energieverbraucher geworden ist, werden gerade die großen Städte fahrradfrei gemacht, damit die Autos ungestört zirkulieren können. Ebenfalls in China geht jede Woche ein neues Kohlekraftwerk ans Netz. In ganz Europa sind derweil vor den Gerichten hunderte Prozesse gegen den Bau von Windrädern anhängig, die von Anwohnern initiiert wurden, die sich gegen die angebliche Verschandelung der Landschaft wehren. In vielen europäischen Staaten gehen noch mehr gigantische Kraftwerke ans Netz. Mehr Autobahnen werden gebaut und viele Flughäfen vergrößert.

Leben wir, wie der im Mai 2010 in die Kinos gekommene Dokumentarfilm »The Age of Stupid«[1][1] postuliert, im Zeitalter der Dummheit? Werden so unsere Kinder und Kindeskinder mal über uns urteilen?

Warum tun wir also nichts? Welches Sedativum haben wir genommen? Eine beliebte Antwort lautet: »Der Mensch ist egoistisch. Er möchte nicht auf industrielle Bequemlichkeiten wie das Auto, das Flugzeug oder das Handy verzichten. Daher handelt er nach der Devise ‚Nach mir die Sintflut’. Motto: ‚Hauptsache, ich habe noch schöne Erlebnisse’«

Der Befund ist hart, aber sicher teilweise zutreffend. Jeder Mensch ist ein Stück weit Egoist – das gilt auch für die größten Altruisten. Es mag stimmen, dass viele Menschen in den reichen Ländern von einer Versäumnisangst getrieben werden, sie möchten sich von dem (vermeintlich) überwältigenden Angebot der »Multioptionsgesellschaft«[2][2] so wenig wie möglich durch die Lappen gehen lassen.

Dennoch ist diese erste These in vielerlei Hinsicht unbefriedigend. Die Antwort auf die Frage danach, warum wir passiv sind und uns an die Zuschauerrolle gewöhnt haben, ist verzwickter und komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint.

1. Wissen und Information

Es ist zunächst sinnvoll, einige Begriffe näher zu bestimmen, nämlich den Begriff der Information und den Begriff des Wissens. Eine Information kann alles Mögliche sein, z.B. die Nachricht, dass Barack Obama Urlaub in Indonesien macht, dass Bayern München gegen den Hamburger SV gewonnen hat oder dass Britney Spears unten ohne gesichtet wurde. Das sind Nachrichten ohne Belang. Es ist Informationsmüll.

Eine Nachricht ist aber ebenso, dass sich das Artensterben beschleunigt oder dass der Meeresspiegel um 2 cm steigt.

Die Menschen haben das Problem der kontinuierlichen, schnellen und variantenreichen Informationsübermittlung gelöst, aber sie wissen nicht, wie sie mit der enormen Menge an Informationen, die sie tagtäglich erreicht, umgehen sollen.[3][3] Wissen ist organisierte Information, genauer eine in einen Kontext eingebettete Information; eine Information, die einen Zweck hat und die einen dazu bringt, sich weitere Informationen zu verschaffen, um etwas zu verstehen. Ohne organisierte Information mögen wir etwas von der Welt wissen, aber nichts über sie. Wer über Wissen verfügt, weiß, wie er Informationen einzuschätzen hat, weiß, wie er sie in Beziehung zu seinem Leben bringt. Vor allem weiß er aber, welche Informationen ohne Bedeutung sind.[4][4]

Die Medien überhäufen uns mit Informationen, stellen aber kaum Zusammenhänge her. Sie präsentieren uns eine Welt, die voll ist mit »Unds«. Dies geschah und dann das und dann etwas anderes. Es fehlt die Einbettung, es fehlt das »Weil«.[5][5]

Eine erste wesentliche Handlungsschranke ist also Nichtwissen. Wissen muss man sich häufig mühevoll aneignen, es fällt nicht vom Himmel. Ist diese erste Schranke überwunden, gibt es weitere. Oder anders formuliert: Wissen ist eine notwendige, aber allein nicht ausreichende Bedingung für Handlungen und Verhaltensänderungen.

2. Erkenntnisse der modernen Psychologie

Es gibt viele Menschen in den Industrieländern (wir alle kennen welche – und wir kennen uns auch selber), die wissen, dass ihr Lebenswandel der Natur Schaden zufügt, die aber dennoch systemtreu bleiben. Zwischen dem Wissen und dem Handeln stehen eine Reihe von intervenierenden Faktoren. Menschen sind komplex – der Mensch ist nicht vergleichbar mit dem Pawloschen Hund, bei dem ein Reiz sofort einen Reflex auslöst.[6][6]

In gewisser Weise ist der Mensch aber ein »Gewohnheitstier«, das sich kulturell und biologisch in eingefahrenen Bahnen bewegt.

Evolutionstheoretisch betrachtet ist der Mensch immer auf die Gegenwart ausgerichtet. Die Gattung Homo sapiens sapiens hat sich vor 150 000 Jahren in Ostafrika entwickelt. Sie hat nur überlebt, indem sie sich immer auf das unmittelbar Bevorstehende konzentriert hat. Überlebt hat, wer sich auf den herannahenden Säbelzahntiger konzentriert hat und schleunigst verschwunden ist – und nicht, wer darüber räsoniert hat, welche Getreidesorte in zehn Jahren den Anbau verdiene.

Der Mensch hat zudem im Laufe der Evolution Schutzmechanismen entwickelt, die immer dann aktiv werden, wenn eine Lähmung durch bedrohliche Gefühle droht.

Der Mensch ist kein widerspruchsfreies Wesen. In der Moralphilosophie und auch in der Theologie wird genau das unterstellt, aber psychologisch ist diese Vorstellung nicht haltbar. Der Mensch kann ein bestimmtes Maß an Widersprüchen und Konflikten aushalten. Jeder Mensch hat innere Konflikte und trägt Widersprüche mit sich herum.[7][7] Die Strategien, die der Mensch anwendet, um ein lähmendes und krank machendes Übermaß an Widersprüchen zu vermeiden, sind nicht sehr zahlreich:

Die eine ist Verdrängung, ein Mechanismus, durch den wir ausblenden, was wir nicht wahrhaben wollen, weil es unser Selbstgefühl stört. Verdrängen heißt nicht vergessen. Jeder Mensch ist in der Lage, zu verdrängen – folglich kennen wir den Mechanismus, auch wenn jedes Verdängen qua definition ein unbewusster Vorgang ist. Bedrohliche Wahrheiten, die unser »Funktionieren« verhindern oder stören, halten wir von uns fern.[8][8] Gute Nachrichten lassen wir dagegen näher an uns heran. Man erspart sich durch den Vorgang des Verdrängens die Auseinandersetzung mit Problemen und die Schwierigkeit, sich in einem Dilemma bewusst zu entscheiden. So bleibt der Konflikt ungelöst. Zwar beschäftigt er uns nicht mehr bewusst, aber er schwelt unkontrolliert weiter. Er kann sich dem Wandel der äußeren Umstände nicht anpassen, sondern erhält sich unverändert. In Träumen, in Fehlleistungen, in Neurosen oder psychosomatischen Krankheiten macht er sich mehr oder weniger unerkannt geltend.[9][9]Es versteht sich von selbst, dass man nur etwas verdrängen kann, was man weiß oder erfahren hat. Im Falle von Nichtwissen spart man sich die Verdrängung.

Nicht minder interessant, aber weit weniger bekannt, ist das, was in der Psychologie mit dem Begriff der »kognitiven Dissonanz« beschrieben wird. Wenn Menschen eine Diskrepanz zwischen ihren Überzeugungen und Einstellungen auf der einen Seite und der Wirklichkeit auf der anderen Seite erleben, erzeugt das ein tiefes Unbehagen und damit das dringende Bedürfnis, die Dissonanz zu beseitigen oder wenigstens zu reduzieren. Psychologen sprechen von »Dissonanzreduktion«. Daher wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit der eigenen Überzeugung angepasst. Man weiß aus zahlreichen Studien, dass Raucher Lungenkrebsstatistiken für überbewertet halten. Genauso weiß man, dass Anlieger von Kernkraftwerken das Strahlungs- und Unfallrisiko niedriger einschätzen als Menschen, die weit entfernt von Atomkraftwerken entfernt leben.[10][10]

3. Erfahrungen, die mit dem Wissen kontrastieren

Verdrängung und kognitive Dissonanz dürften vor dem Hintergrund der heraufziehenden Umweltkrise wirkmächtige Faktoren sein. Dennoch ist damit die Reihe der Ursachen für unser passives Verhalten längst noch nicht vollständig. Anders formuliert: Es gibt noch mehr Probleme. Zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir wahrnehmen oder erfahren, liegt ein überaus großer Graben.

Unsere Infrastrukturen funktionieren ganz wunderbar, wie wir tagtäglich feststellen können. Busse fahren, Flugzeuge fliegen, Metzger und Bäcker machen pünktlich auf, Zeitungen erscheinen, die Müllabfuhr kommt regelmäßig, der Strom kommt aus der Steckdose und das Wasser aus dem Hahn – alles wunderbar. Wir erleben darüber hinaus unsere Umwelt als weitgehend intakt und die etwas Älteren bemerken sogar Verbesserungen gegenüber vergangenen Jahrzehnten. Unsere Flüsse sind zum Beispiel sauberer als vor fünfzig Jahren, es gibt praktisch nirgendwo mehr wilde Müllhalden und die Luftqualität ist mancherorts gestiegen.

Die Generationen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben oder die in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten zur Welt kamen, haben einen beispiellosen materiellen Aufstieg erlebt. Die letzten fünfzig Jahre waren eine Epoche stetiger Wohlstandssteigerungen.

Horrormeldungen in der Tageszeitung können da nur bedingt beeindrucken, schließlich sieht unsere Lebenswirklichkeit ganz anders, eben viel freundlicher, aus.

Allerdings ist diese Lebenswirklichkeit häufig komplett künstlich. Die meisten Menschen in den Industrieländern leben in einer abgeschotteten Welt. Sie sind in gewisser Weise von der Natur abgeschnitten und damit entfremdet. Die Erfahrungen stammen aus dritter oder vierter Hand. Ein großer Teil der Menschen lebt in Städten. Sie nehmen die Brüche in ihrer Umwelt nicht wahr. Wir steigen in unsere klimatisierten Autos, arbeiten in klimatisierten Gebäuden, gehen in riesigen Supermärkten ohne Fenster einkaufen. Wir sehen nicht, wie das Gemüse, das wir kaufen, gemacht wird. Abends schalten wir das Fernsehgerät ein oder setzen uns vor den Computer – auch diese Geräte vermitteln keine echten Erfahrungen.

Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Die schönen bunten Geschäfte, in denen wir unsere Waren kaufen, sind weit entfernt von den Leidensorten – den Orten, wo viele Güter produziert werden. Die räumliche Entfernung trägt wesentlich dazu bei, dass wir nicht wahrnehmen, dass wir auf Kosten anderer leben.[11][11]

Eng mit diesem Themenkomplex verbunden ist ein Konzept aus der Umweltforschung. Es nennt sich »Shifting Baselines«. Mit diesem Begriff, den Harald Welzer popularisiert hat, wird ein Phänomen beschrieben, wonach sich die Orientierungspunkte, anhand derer die Menschen ihre Umwelt beurteilen, schleichend und unbemerkt verschieben.[12][12]

Menschen halten immer jenen Zustand ihrer Umwelt für den »natürlichen«, der mit ihrem Lebens- und Erfahrungshorizont zusammenfällt, und Menschen verändern sich mit ihrer Umwelt in ihren Wahrnehmungen und Werten gleitend, ohne dass sie dies jedoch selber bemerken.[13][13] Shifting baselines sind insofern auch dafür verantwortlich, was wir für normal halten und was nicht.

Im Zusammenhang mit »Shifting Baselines« – von unmerklichen schleichenden Veränderungen unserer Wahrnehmung – wird zur Veranschaulichung immer wieder eine Studie aus dem Jahr 2005 zitiert.[14][14] Diese untersuchte die Wahrnehmung von Fischbeständen an der kalifornischen Küste. Forscher befragten hier drei Generationen von kalifornischen Fischern, wie sich der Fischbestand in ihrer Bucht ihrer Meinung nach verändert habe. Allen war bewusst, dass sich der Fischreichtum verschlechtert hat. Während die ältesten Fischer sich noch an elf Arten erinnerten, die sie früher vor der Küste fingen und die verschwunden sind, nannten die jüngsten Fischer nur zwei Fischarten, die es früher einmal gegeben hat und jetzt nicht mehr gab. Ihre Wahrnehmung von Umweltveränderungen setzte an einem ganz anderen Referenzpunkt an, sie nahmen nur die Verschlechterung der Fischbestände aus ihren verschobenen Referenzpunkten wahr. Das Fehlen der Fischarten gegenüber dem früheren Zustand in unmittelbarer Küstennähe war ihnen gar nicht mehr bewusst. Schon aus diesem Beispiel wird deutlich, wie schwer der Umgang mit Umweltproblemen wird, wenn sich die Referenzpunkte zu ihrer Bewertung kontinuierlich verschieben.[15][15] Das Konzept kann unter dem Strich erklären, warum Menschen ökologische Veränderungen nicht registrieren.

Und dann gibt es noch ein Problem. Die Menschen in den Industrieländern haben in der Vergangenheit allzu häufig die Erfahrung gemacht, dass viele Schreckensmeldungen nicht eintreten. Krisen- und Katastrophenmeldungen gibt es in den Medien häufig – oft genug erweisen sich diese jedoch als Sturm im Wasserglas. Die »Schweinegrippe« hat es kürzlich wieder bewiesen. Manche werden sich spontan auch an den Hype um den vermeintlichen globalen Computerabsturz im Zuge des Jahrtausendwechsels erinnern (»Millenium-Bug« oder »Y2K«). Da ist es nicht verwunderlich, da sich bei vielen Menschen ein Denkreflex auf Schreckensmeldungen herausbildet: »Es wird schon nicht so schlimm kommen.«

4. Krake Lobbyismus

Erst in Krisen beginnen die Menschen zu handeln. Das hat das Ozonloch gezeigt. Oder die Kuba-Krise, die erst zur Rüstungskontrolle und dann zur atomaren Abrüstung führte.

Das Problem ist nur: Wir haben keine Zeit. Veränderungen in der Sphäre der Umwelt vollziehen sich nur sehr langsam und machen sich oft erst nach Jahrzehnten bemerkbar. Abzuwarten, bis die schlimmsten Konsequenzen der ökologischen Krise eingetreten sind, ist keine Option.

Und dennoch wählen die (nicht-)handelnden Politiker genau diesen Weg des Abwartens. Gründe dafür gibt es viele. Der vielleicht wichtigste ist der Einfluss der Lobbyisten der alten Industrien auf die politischen Entscheidungsträger. Vor allem die Auto-, Energie- und Ölindustrie nehmen beträchtliche Summen in die Hand, um selbst kleine Fortschritte im Keim zu ersticken. So gab der berüchtigte Ölkonzern Exxon Mobil im ersten Halbjahr 2009 mit 14,9 Millionen US-Dollar mehr Geld für Lobbyarbeit in Washington aus als alle Hersteller von Solarzellen und Windrädern zusammengenommen (12,9 Millionen US-Dollar).[16][16] Zwischen 1998 und 2005 wandte Exxon Mobil nahezu 67 Millionen US-Dollar zur Finanzierung von Lobbygruppen in den USA auf, um marktradikale Think Tanks und klimaskeptische Gruppen zu unterstützen oder überhaupt erst zu gründen. Mit diesen Aufwendungen liegt der Ölriese mit Sitz in Houston vor seinen Branchenkonkurrenten Chevron und Shell, die 41 Millionen US-Dollar bzw. 28 Millionen US-Dollar für die politische Landschaftspflege im gleichen Zeitraum ausgaben.[17][17] Summen, an die weder Unternehmen aus dem Bereich der regenerativen Energien noch Umweltschutzgruppen auch nur annähernd heranreichen.

Die Lobbyarbeit der Unternehmen zielt natürlich auch auf die Bürger und den schon beschriebenen Mechanismus der Dissonanzreduktion. Beim Bürger soll sich die Überzeugung einstellen: »Die einen Wissenschaftler sagen das, die anderen behaupten das Gegenteil. Warten wir ab, bis sie sich geeinigt haben«.

Für die politischen Entscheidungsträger, für die Obamas, Camerons, Merkels und Sarkozys, ergibt sich nicht nur das Problem, dass sie persönlich auf dem Feld der Umweltprobleme nicht ausreichend kompetent[18][18] sind, sondern dass die Kosten, jetzt etwas zu tun, aus persönlicher Sicht höher sind als nichts zu tun. In ein paar Jahren sind sie nicht mehr im Amt. Sie schreiben dann ihre Memoiren.

5. Kulturelle Mythen

Und das sind noch immer nicht alle Hindernisse. Keinesfalls zu unterschätzen sind kulturelle Einflussfaktoren.

Der Geograph Jared Diamond hat sich in seiner äußerst gründlichen Studie »Kollaps« u.a. mit dem Niedergang der Osterinseln befasst. Er fragt: »Was sagte der Bewohner der Osterinsel, der gerade dabei war, die letzte Palme zu fällen?«[19][19]

Die Antwort liefert Diamond fast 400 Seiten später: Weil Bäume (aus religiösen Gründen) schon immer gefällt wurden und es als völlig normal empfunden wurde, dass auch der Letzte fällt.[20][20]

Menschen sind Gruppenwesen. Und die Gruppe, in der sie leben, prägt ihre Werthaltungen. Wir wachsen mit vielen nützlichen Dingen auf und halten sie für das Normalste der Welt. Dass diese Dinge uns eines Tages nicht mehr zur Verfügung stehen könnten, kommt uns nicht in den Sinn. Es ist die kulturelle Lebensform selbst, die manchmal ausschließt, dass bestimmte Sachverhalte gesehen oder schädliche Gewohnheiten geändert werden können. Aus der Außenperspektive erscheint völlig widersinnig, was aus der Binnensicht große Rationalität besitzt.[21][21] Um bei dem Beispiel der Osterinseln zu bleiben: Die soziale Katastrophe der Osterinsel beginnt nicht mit dem Fällen des letzten Baumes, sondern deutlich vorher, nämlich mit dem Fällen des ersten Baumes. Für die Insulaner war freilich das Ende nicht absehbar.

Zu den Mythen unserer Kultur gehört unsere Überzeugung, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, dass wir so, wie wir leben, richtig leben. Dass unser vermeintlich gutes Leben auf der Ausbeutung anderer Menschen, aber auch auf der Ausbeutung der Natur fußt, kommt uns nicht in den Sinn. Wir sind davon überzeugt, die Krone der Schöpfung zu sein. Daraus leitet der Mensch die Schlussfolgerung ab, dass er Tiere und Pflanzen für seine Zwecke benutzen darf. Diese Überzeugung nehmen wir mehr oder weniger mit unserer Muttermilch auf. Sie gehört seit Jahrtausenden zu den unhinterfragten Grundsätzen der meisten menschlichen Lebensweisen. Im Grunde lässt sich die Idee bis zur neolithischen Revolution zurück verfolgen. Waren die Menschen vor der Jungsteinzeit noch nomadisierende Jäger und Sammler, lebten sie noch mit statt von der Natur, veränderte die neolithische Revolution als die mit Abstand bedeutendste Revolution der Menschheitsgeschichte praktisch alles: Die Menschen wurden sesshaft. Die Jäger und Sammler entwickelten sich zu Ackerbauern und Viehzüchtern, die nun von statt mit der Natur lebten. Gesellschaftliche Klassen entstanden. Weil die neue Produktions- und Lebensweise Überschüsse erbrachte, mussten nicht mehr alle Menschen arbeiten. Manche nutzten die freie Zeit für Erfindungen. Der technische Fortschritt und das, was man gemeinhin »menschliche Entwicklung« nennt, begann.

Technischer Fortschritt ist übrigens ein weiteres wichtiges Stichwort. Der Begriff ist in unserer Gesellschaft außerordentlich positiv besetzt. Der technische Fortschritt hat dazu geführt, dass wir nicht mehr in Strohhütten leben und nur noch zum Hobby auf Pferderücken reiten. Er hat uns Haartrockner, Espressomaschinen und Zeitungen beschert, aber auch Fernsehen, das uns verblödet, Fahrzeuge, die die Luft verpesten, oder Uranmunition, welche, einmal verschossen, Jahrtausende die Umwelt verstrahlt, Leukämie erzeugt und zum Tode führt.

Man muss kein Anarchoprimitivist sein, um zu sehen, dass der technische Fortschritt nicht nur positive Seiten hat, sondern auch jede Menge Schattenseiten. Erst der technische Fortschritt hat die Menschheit in die Lage versetzt, sich selbst vernichten zu können. Das konnte früher nur Gott.

Der Glaube an den technischen Fortschritt, auch in der Literatur als »Baconhypothese«[22][22] bekannt, ist tief in unserer Kultur verwurzelt.[23][23] Wir begegnen Problemen optimistisch, weil wir glauben, dass die technologische Entwicklung schon rechtzeitig Lösungen finden wird. Dieser Glaube mag vor dem Hintergrund unserer Alltagserfahrungen manchmal sogar berechtigt sein, mit Blick auf die Umwelt-, Klima- und Ressourcenkrise könnte er sich jedoch als verhängnisvoll erweisen. Die Herausforderungen, vor die unser Planet und mit ihnen die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten stehen, sind immens. Man kann es am besten mit Albert Einstein sagen: »Die Probleme, die es in der Welt gibt«, so schrieb der Schöpfer der Relativitätstheorie, »sind nicht mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt hat.« Dem ist nichts hinzuzufügen.


Anmerkungen[24]

[1] The Age of Stupid, Großbritannien 2009, Regie: Franny Armstrong, 89 Minuten.
[25]

[2][26] Vgl. dazu Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1994.

[3][27] Vgl. Postman, Neil: Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert, 2. Auflage, Berlin 2007, S. 114.

[4][28] Vgl. ebenda, S. 118.

[5][29] Vgl. ebenda, S. 120.

[6][30] Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, Bonn 2009, S. 97.

[7][31] Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald: a.a.O., S. 74.

[8][32] Das Paradebeispiel in diesem Kontext ist sicher der eigene Tod. Jeder Mensch weiß, dass er sterblich ist. Das Nachdenken über den Tod löst bei den meisten Menschen allerdings Ängste aus, so dass wir den Fakt unserer eigenen Sterblichkeit mit Nachdruck verdrängen und ausblenden.

[9][33] Vgl. dazu Kalle, Matthias/Lebert, Stephan: Das Glück der Verdrängung – Interview mit dem Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, in: Die Zeit vom 19.3.2009, Nr. 13. Vgl. dazu auch o.V.: Verdrängung. Online unter: http://www.psychology48.com/deu/d/verdraengung/verdraengung.htm [Stand: 23. Juli 2010]

[10][34] Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald: a.a.O., S. 78.

[11][35] Die Journalistin Tanja Busse formuliert in diesem Zusammenhang treffend: »Eigentlich wollen wir keine Mobiltelefone, an denen das Blut von Kindersoldaten klebt, und keine Steaks und Taschentücher aus abgeholzten Regenwäldern. Geschähe das unmittelbar vor unseren Augen, wir würden es nicht ertragen. So aber schiebt sich die hippe heile Welt der Werbung zwischen uns und unsere Waren, und die weltweite Arbeitsteilung tut ein Weiteres. Wir sehen nicht, wie unsere Kleider in Südostasien genäht werden... Wir sehen nicht einmal, wie Kühe und Schweine in deutschen Ställen gehalten werden.« Das Zitat findet sich in: Busse, Tanja: Die Einkaufsrevolution. Konsumenten entdecken ihre Macht, München-Zürich 2006, S. 20.

[12][36] Vgl. Welzer, Harald: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2008, S. 210.

[13][37] Vgl. ebenda, S. 214.

[14][38] Sáenz-Arroyo, Andrea et al.: Rapidly shifting environmental baselines among fishers of the Gulf of California, in: Proceedings, Royal Society of London, 272/2005, S. 1957-1962.

[15][39] Natürlich sind auch andere Beispiele vorstellbar. Man denke etwa an die Systeme der Überwachung: Die Generation, welche in diesem Jahrzehnt aufwächst, wird Videokameras, Gentests und biometrische Daten für ein normales Prozedere halten, und die Abfrage persönlicher Daten ist für diese Generation selbstverständlich.

[16][40] Vgl. Konicz, Tomasz: Lobby gegen Klimaschutz, in: Junge Welt vom 6.1.2010, S. 9.

[17][41] Zum Nachlesen: www.exxposeexxon.com/exxonMobil_politics.html [Stand: 18.1.2010]

[18][42] Es gilt zu bedenken, welchen Hintergrund die politischen Entscheidungsträger in ihr Amt einbringen. Viele sind ökonomisch geschult (oder werden zumindest von zahlreichen Ökonomen beraten, die erfahrungsgemäß hohen Einfluss auf Entscheidungen haben), viele haben einen juristischen Hintergrund, manche sind Ingenieure. Ihnen fehlen die Antennen für ökologische Belange – und auch das nötige Wissen. Sie spielen lieber auf den Feldern, auf denen sie sich auskennen (oder sich auszukennen glauben). Kommt man auf Umweltfragen zu sprechen, weichen sie dieser Thematik lieber aus oder verlagern das Gespräch auf ein Feld, auf dem sie kompetent sind.

[19][43] Diamond, Jared: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt am Main 2006, S. 147

[20][44] Vgl. ebenda, S. 533.

[21][45] Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald: a.a.O., S. 87.

[22][46] Nach dem britischen Philosophen Francis Bacon (1561-1626). Er war der Erste, der ausführlich den Gedanken äußerte, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt in der Naturbeherrschung der Garant dafür sei, dass gesellschaftlich-sozialer Fortschritt möglich werde. Vgl. dazu ausführlich und kritisch Ullrich, Otto: Forschung und Technik für eine zukunftsfähige Lebensweise. Online im Internet unter folgender URL: http://www.otto-ullrich.de/Texte_files/Forschung%20und%20Technik%20fuer%20eine%20zukunftsfaehige%20Lebensweise.pdf [Stand: 16. Juli 2010]

[23][47] Im Grunde ist es sogar mehr als nur ein Glaube. Es ist eine Ideologie, weil mit der Überzeugung, dass der technische Fortschritt unsere Probleme löst, handfeste Interessen verbunden sind.

¬ Dr. Norbert Nicoll ist ein belgischer Politikwissenschaftler und Ökonom. Er arbeitet für Attac Belgien und beschäftigt sich eigentlich mit Think Tanks und der neoliberalen Ideologie. Seit einem knappen Jahr arbeitet er an einem Buchprojekt zur Umweltkrise.

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