22.11.2010

Geschlecht und Sexualität. Nur ein Nebenwiderspruch?

Workshopbericht vom 31.10.2010

Klaus Lederer

Das Kapitalverhältnis – ein Machtverhältnis unter vielen? Kapital und Arbeit und Geschlechterverhältnisse.

Gegenstand des theoretischen Workshops war auszuleuchten, inwieweit mit der Konzentration auf das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in der modernen kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft Herrschaftsverhältnisse umfassend und richtig beschrieben sind. Der Entwurf des Parteiprogramms fokussiert stark auf eine ökonomistische Determinierung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse. Wo haben da Geschlechterverhältnisse und feministische Gesellschaftskritik Raum?

In Eingangsbeiträgen stellten Caren Lay und Stefan Kalmring ihre Sicht auf die Dinge dar. Für Caren Lay macht sich die zu enge Perspektive des Entwurfs an der Reduzierung des Arbeitsbegriffs auf Lohnarbeit fest. Es sei zwar richtig, Geschlechtergerechtigkeit auch im (Lohn-)Arbeitsleben zu thematisieren. Die Diskriminierung der Geschlechter greife jedoch weiter, etwa bei der „Externalisierung“ von Reproduktionskosten in die Gesellschaft. Sie verwies auf die von Frigga Haug angemahnte Blickweitung über den engeren ökonomischen Produktionsprozess hinaus. Patriarchat, Rassismus und Heteronormativität sind eigenständige Unterdrückungsverhältnisse, die nicht einfach ein „Nebenwiderspruch“ oder eine Ableitung des Kapitalverhältnisses sind. Stefan Kalmring vertieft diese Kritik. Aus seiner Perspektive führt der Weg, den der Programmentwurf weist, nicht in eine radikaldemokratische Gesellschaftsveränderung. Er soll lediglich die Vollendung und Weiterentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft (unter Modifikation von Produktivismus, Wachstumsfetisch, ökonomisches Rationalitätskalkül) bewirken. Individuelle und gesellschaftliche Befreiung werden nicht zueinander gebracht. Diese Verkürzung prägt auch den Blick auf Geschlechterverhältnisse. Die materielle Grundlage der bürgerlichen Geschlechterordnung wird nicht analysiert, anstelle von Emanzipation tritt folglich die liberale Gleichstellungsforderung. Konsequenterweise sind die Herrschaftsunterworfenen aus Sicht der EntwurfsautorInnen auch keine selbstbewußten AkteurInnen, sondern sie werden als Objekte und NutznießerInnen der Durchsetzung von für sie „stellvertretend“ formulierter und durchzukämpfender Forderungen betrachtet.

In der anschließenden Debatte wurde die Beziehung zwischen Kapitalverhältnis und anderen Unterdrückungsverhältnissen weiter herausgearbeitet. Das Klassenverhältnis als verdinglichtes Herrschaftsverhältnis prägt in dominanter Weise die gesellschaftliche Entwicklungsdynamik. In expansiver Weise treibt es die Inwertsetzung immer neuer gesellschaftlicher Sphären voran und verallgemeinert den Zwang zur Lohnarbeit. Insoweit trägt es auch die Tendenz in sich, andere historische Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, die stärker personal geprägt sind, aufzulösen oder seinen Notwendigkeiten entsprechend zu modifizieren, zu überlagern und aufzugreifen, und als globales Herrschaftsverhältnis in einen globalen Zusammenhang einzupassen. Diese „Neukonfiguration“ erfährt auch das Geschlechterverhältnis. In der Verbindung der Kämpfe für Geschlechteremanzipation und sexuelle Vielfalt auf der einen und der Befreiung vom Lohnarbeitszwang können die verschiedenen Widersprüche und ihr Zusammenhang aufgegriffen und thematisiert werden. Kritik am Kapitalverhältnis und Kritik an anderen Herrschaftsbeziehungen stehen also nicht zusammenhanglos nebeneinander. Es gilt, die Zusammenhänge aufzudecken und damit ihre emanzipatorische Dimension wieder freizulegen, zu stärken und zu nutzen. Anschaulich wird das bei der Neuorganisation des Arbeitsmarktes, in der „neue Selbständigkeit“ und der Wert von Hausarbeit, freiwilligem sozialen Engagement, „Bürgerarbeit“ und informelle Ökonomie in der Überwindung der seit den 1970er Jahren anhaltenden strukturellen Verwertungskrise das Geschlechterverhältnis neu ordnen – durch Marginalisierung und Prekarisierung, durch Überwälzung gesellschaftlicher Kosten, gerade auf Frauen. Das hat durchaus Folgen für die emanzipatorischen Kämpfe, für neue Allianzen und Bündnisse, für eine Strategie der Gesellschaftsveränderung, die an den konkreten Lebensbedingungen der Menschen anknüpfungsfähig ist. Diesen Blick gilt es in das Programm einzubringen.