25.12.2010

Arbeit, Arbeit, Arbeitsbegriff

Vorschlag zur Güte: Ein Trias aus Vollbeschäftigung, Wirtschaftsdemokratie und Grundsicherung

Jörg Schindler

Die Programmdebatte der LINKEN gewinnt an Fahrt. Entgegen vieler Einschätzung dreht es sich bei den Kontroversen jedoch weniger um die - für linke Regierungsbeteiligungen wesentliche - außen- und militärpolitische Frage nach Bundeswehreinsätzen im Ausland. Offenbar rechnen hier die BefürworterInnen damit, innerparteilich verprügelt zu werden. Und hoffen wohl auf "bessere diskursive Zeiten". Statt dessen haben sich zwei Fragen in der Programmdebatte zum Zankapfel entwickelt: Inhaltlich die Frage nach der gesellschaftlichen Bewertung der Erwerbsarbeit durch DIE LINKE. Formal die Frage, wie die Programmdebatte zu führen ist - als ergebnisoffener, kontroverser Diskussionsprozess oder als stark vorstandsgesteuerter Prozess der Einschwörung der Partei aufs gemeinsame Strangziehen.

"Zementrührer" vs. "Wichtigtuer"

In gewisser Weise eskaliert ist der Konflikt (auch) an einem Interview[1] unseres Redaktionsmitglieds Katja Kipping. Katja wirft der Mehrheit des LINKEN-Parteivorstands vor, sich auf ein männerzentriertes Bild der Erwerbsarbeit im Programmentwurf festgelegt zu haben und Anregungen der Bundesfrauenkonferenz zu ignorieren, die auf die notwendige Verknüpfung der Erwerbsarbeit mit den anderen Formen der Arbeit verweist. Damit verschiebe man letztendlich den Kampf gegen die Geschlechterdiskriminierung in der Arbeitswelt auf die postkapitalistische Zeit und falle so hinter die feministische Kritik der politischen Ökonomie zurück. Zudem sei der Stil, Änderungen im Programmentwurf erst auf dem Parteitag überhaupt zuzulassen, politisch autoritär.

Klaus Ernst hat postwendend geantwortet: Alles nur Wichtigtuer[2]. Und die Bürgerpresse hat vom Konflikt rein nichts verstanden, dafür eine - eher willkürliche - Einordnung angeblicher "Realo-vs-Fundi"-Konflikte vorgenommen, wobei Klaus Ernst als auch Katja Kipping wahlweise mal Fundi, mal Realo/-a sind.

Nicht zu vergessen: Diverse KofferträgerInnen aus dem Apparat haben sich solidarisiert und gleichzeitig ihre Abscheu, Zorn, Wut und Empörung pawlow-like zum Ausdruck gebracht. Damit klar bleibt, wer "Die Guten" sind. Bemerkenswert ist auch die Schärfe der Wortwahl, die mit dem verhandelten Problem - jedenfalls inhaltlich - nicht konform geht.

Wozu der ganze Quark?

Vielleicht macht es daher Sinn, die Programmdiskussion und die Kontroverse um Arbeit nochmals an folgenden Prämissen auszurichten:

1. Programmdebatten sind keine "Parteibespaßung".

Es kann im Programmentwurf der LINKEN nicht darum gehen, die eigene theoretische Weltanschauung durchzusetzen und sich hieran selbst zu befriedigen. Ebensowenig geht es um eine innere Beruhigung der Mitgliedschaft durch wohlfeile Worte zum Sonntag. Sondern das Programm soll aufzeigen, was DIE LINKE als drängende Fragen unserer Zeit ansieht und welche grundsätzlichen Antworten sie darauf gibt, die in ihrer praktischen Politik Realität werden sollen. Deshalb sind Programmdebatten transparent und auch "an die Öffentlichkeit" gerichtet zu führen. Auch die Presse, von unserem kleinen Magazin bis zu BILD, ist Öffentlichkeit. Deshalb ist es weder ein Problem noch überhaupt vermeidbar, wenn Kontroversen zu Programmfragen über den Vorstand hinausdringen oder gar die Presse beschäftigen. Alle anderen Parteien wären froh drum. DIE LINKE und ihre Mitglieder und AnhängerInnen sollten es auch sein.

2. DIE LINKE ist - nach wie vor - eine Sammlungsbewegung.

(Nicht nur) die Programmdebatte zeigt: In der LINKEN finden sich sehr stark differierende Positionen, auch zu grundsätzlichen Fragen. Ob es uns passt oder nicht - DIE LINKE ist keine Partei mit kohärentem demokratisch-sozialistischen Weltbild. Sondern sie ist ein Bündnis aus ReformkommunistInnen, linken und verhinderten SozialdemokratInnen, undogmatischen und ex-dogmatischen Kleingruppenlinken, in vielen Bereichen verschiedenartig sozial engagierten Menschen, frustrierten Agenda2010-VerliererInnen, OstalgikerInnen, poststalinistischen TechnokratInnen, linken Spinnern und gescheiterten WeltverbessererInnen. Dies war bei Parteibildung allen Beteiligten klar, oder musste es zumindest sein. Ralf Krämer und Klaus Ernst, selbst Mitbegründer der WASG, haben zu Recht bis 2007 immer darauf bestanden, dass die Wahlalternative als Vorläuferin der LINKEN keine sozialistische Partei sei. Das kann jetzt - in der LINKEN - auch nicht anders sein. Schließlich sind die Aktiven trotz aller Klärungs-, Konsolidierungs- und Selbstbildungsprozesse keine ganz Anderen geworden. Über alles weitere wird daher immer wieder und fortlaufend zu reden sein.

3. Die Kontroverse um "Arbeit, 4-in-1-Perspektive, Grundsicherung/-einkommen und Vollbeschäftigung" kann nicht programmatisch sinnvoll entschieden werden.

Wenn man die These von der (fortdauernden) Sammlungsbewegung ernst nimmt, kann man nicht ernsthaft auf einer programmatischen Entscheidung dieser Frage beharren. Denn mit ihr sind ideologisch (derzeit) unvereinbare Grundpositionen berührt.

Auch in der prager-frühling-Redaktion gibt es um die Frage der Vollbeschäftigung und des Grundeinkommens verschiedene Auffassungen: Es gibt BefürworterInnen, SkeptikerInnen und KritikerInnen; hier[3] nachzulesen. Es gibt in unserer Redaktion LINKEN-Mitglieder und solche, die es bewusst nicht sein wollen, es gibt Redaktionsmitglieder verschiedener Strömungszugehörigkeit. Abbruch hat dies weder der politischen noch der kulturellen Sympathie der Redaktion getan - warum sollte dies also in der LINKEN nicht gelingen? Notwendig ist allerdings eines - der Verzicht auf das Verdikt und die Fatwah, die verbale Exkommunizierung aus der Gruppe der Rechtgläubigen, der cholerische Anfall über eine veröffentlichte Position, die mitunter nicht der eigenen ganz so perfekt entspricht. Und: Wer wirklich sammeln will, muss nehmen, was er oder sie halt vorfindet.

4. Aus der Not eine Tugend machen. Vom Dissens zur pluralen Trias: Arbeitszeitverkürzung, Wirtschaftsdemokratie, Grundsicherung für alle.

Halten wir fest: Der Dissens zur Rolle der Arbeit, Erwerbsarbeit, zur feministischen Überwindung mittels 4-in-1-Perspektive und zu einem Grundeinkommen, ob bedarfsorientiert oder bedingungslos, ist nicht durch Beschluss entscheidbar. Kriterium der Wahrheit ist auch hier die Praxis: Erzwingt die Erosion der Normalarbeitsverhältnisse die völlige Neubegründung der sozialen Sicherungssysteme oder gar der Arbeitsverhältnisformen insgesamt? Oder gelingt der Linken die Reorganisation oder gar Wiedererrichtung sozialkorporativer Standards in der Arbeitswelt? Wir wissen es nicht.

Aber es ist möglich, dem Dissens eine praktisch-pragmatische Form zu geben. Daher folgender Vorschlag zur Güte, eine "Trias":

1. Die LINKE kämpft für die Möglichkeit einer Vollbeschäftigung für alle, die gesellschaftliche Teilhabe hieraus erzielen wollen. Es geht dabei nicht um eine Pflicht zur Arbeit, sondern um den einklagbaren Anspruch, Erwerbslosigkeit entgehen zu können. Konkrete Schritte hierzu sind: Arbeitszeitverkürzung, Sabbatjahre und Rechtsanspruch auf Fortbildung und geschlechterhalbierter Elternzeit bis 3 Jahre.

2. DIE LINKE kämpft für Wirtschaftsdemokratie und Mindestlohnregeln: Konkrete Schritte dazu sind die rechtliche Stärkung der Gewerkschaften, etwa in der Mitbestimmung und durch regionalwirtschaftsdemokratische Instrumente, einen Mindestlohn und Ausweitung der Tarifbindung auf alle wesentlichen gesellschaftlichen Bereiche durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung.

3. DIE LINKE kämpft für eine sanktionsfreie individuelle Grundsicherung für alle in existenzsichernder Höhe, die sich - aus welchen Gründen auch immer - der Erwerbsarbeit entziehen wollen. Keine Situation und kein Verhalten rechtfertigt es, Menschen die Existenz dadurch zu bestreiten, dass ihnen die hierfür notwendigen finanziellen Mittel vorenthalten werden.

In der Vielfalt liegt hier die Kraft der neuen LINKEN.

Zugegeben - die Trias erfüllt nicht die Voraussetzungen ideologischer Kohärenz. Aber: Wer von den Streithähnen und -hennen, SittenwächterInnen und Blauband-ExegetInnen sich hierauf nicht einlassen will, soll sagen, warum.

Links:

  1. https://www.prager-fruehling-magazin.de/article/602.8222-debattieren-statt-durchregieren-8220.html
  2. http://www.neues-deutschland.de/artikel/186900.einige-nehmen-sich-zu-wichtig.html
  3. https://www.prager-fruehling-magazin.de/article/300.1-000-euro-fuer-alle.html