kommunismus neu denken

Michael Hardt über immaterielle Arbeit

Kolja Möller

prager frühling: Gemeinsam mit Antonio Negri vertrittst Du in „Commonwealth“, dass der Kapitalismus in einem Wandlungsprozess steckt. Zentral ist dabei die Hegemonie der immateriellen Arbeit.

Michael Hardt: Wir sind der Auffassung, dass die industrielle Produktion ihre dominante Rolle in der kapitalistischen Ökonomie verliert. Das heißt natürlich nicht, dass die Industrie nicht länger wichtig wäre oder dass weniger Arbeiter in der Industrie angestellt wären. Stattdessen meinen wir: In den letzten 150 Jahren hat die Industrie eine Hegemonie über die anderen Formen der Produktion ausgeübt, die gezwungen waren, den Normalarbeitstag, das Lohnverhältnis und die disziplinären Methoden zu übernehmen. Diese Hegemonie ist dabei sich aufzulösen. Das ist relativ unumstritten.

Wir fügen aber die kontroversere Hypothese hinzu, dass statt von der Industrie die Hegemonie nun von Formen der Produktion ausgeht, die auf immaterielle Güter oder Güter mit starken immateriellen Komponenten zielen, wie beispielsweise die Produktion von Ideen, Wissen, Informationen, Codes, Bildern, Sprachen, Affekten und dergleichen. Denken wir beispielsweise an den Gesundheitssektor, LehrerInnen, SoftwareproduzentInnen, KulturarbeiterInnen und den Dienstleistungssektor. In jedem dieser Bereiche stellen die ArbeiterInnen auch materielle Güter bereit, aber das Ergebnis ihrer Arbeit ist wenigstens zu einem Teil immateriell: Eine Idee, ein Sinn für das Wohlergehen, eine soziale Beziehung etc.

Unser Anspruch ist nicht zu sagen, dass ArbeiterInnen heute mehrheitlich immaterielle Güter produzieren, sondern dass die immaterielle Arbeit unter qualitativen Gesichtspunkten hegemonial wird und andere Bereiche der Produktion transformiert. Selbst die industrielle Produktion muss heute informationsbasierter und kommunikativer funktionieren. Einige Leute entgegnen dieser Hypothese, dass alle realen Werte nur aus der Industrie kommen, in Form von realen, materiellen Gütern, die man zählen kann, wenn sie auf dem Fließband die Fabrik verlassen. Immaterielle Güter, sagen sie, wie Ideen, Bilder, soziale Beziehungen und Affekte, hätten keinen ökonomischen Wert. Europa, lamentieren sie, produziert nichts mehr und alle Produktion findet jetzt in China statt. Gut, erinnern wir uns, dass die Physiokraten im 18. Jahrhundert behaupteten, dass alle ökonomischen Werte aus der Landwirtschaft stammen. Die politische Ökonomie bestand hingegen darauf, dass die Wirtschaft eine Transformation erlebt, in der die Manufaktur und die Industrie gegenüber der Landwirtschaft hegemonial wird. Ich gehe davon aus, dass wir uns gegenwärtig in einer ähnlichen Periode des Übergangs befinden.

pf: In Eurer Kapitalismusanalyse greift Ihr offensichtlich marxistische Motive auf. Es geht um Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Ihr kombiniert das aber mit Michel Foucaults Konzept der Bio-Politik. Wie funktioniert diese Verbindung von marxistischen und poststrukturalistischen Ideen?

Hardt: Ich halte Foucaults Konzept der Bio-Politik für nützlich, um die neuen hegemonialen Formen der Produktion zu verstehen. Der Begriff der immateriellen Arbeit kann durchaus zu Fehlschlüssen führen, da der angesprochene Produktionsprozess Körper und Geist, mentale und manuelle Aktivitäten umfasst. Einzig die Produkte haben einen immateriellen Charakter. Es ist deshalb präziser den Produktionsprozess als „biopolitisch“ zu verstehen, da wir mit der Herstellung von Ideen, Affekten, Sprachen oder Bildern letztlich ganze Lebensformen reproduzieren. Obwohl viele in den 1980er und 90er Jahren poststrukturalistische Theorien und Marxismus für gegensätzlich erachtet haben, finde ich es nützlich, poststrukturalistische Autoren wie Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Félix Guattari so zu lesen, dass sie sich in marxistischen Debatten bewegen und ihnen dabei eine neue Richtung geben. Wenn man auf die marxistischen Debatten der 1970er Jahre zurückschaut, stellt man fest, dass viele Argumente des Poststrukturalismus den heterodoxen Marxismen der damaligen Zeit ziemlich nahe waren. Beide, Postrukturalisten und heterodoxe Marxisten, widersetzten sich den orthodoxen Marxismen.

pf: In wie weit verändert die Metamorphose des Kapitalismus die Bedingungen für emanzipatorische Kämpfe? Bei Antonio Negri und Dir ersetzt die „Multitude“ die ArbeiterInnenklasse als revolutionäres Subjekt.

Hardt: Ich habe überhaupt kein Bedürfnis danach, Begriffe wie ArbeiterInnenklasse oder Proletariat einfach zu verabschieden. Was wir offensichtlich brauchen ist eine Erneuerung dieser Begriffe unter den aktuellen Bedingungen. Der Begriff der „Multitude“ ist nützlich, um uns eine neue Perspektive auf das zu geben, was „Klasse“ heute bedeuten kann und wie revolutionäre Subjektivitäten möglich sind. Ein guter Ausgangspunkt ist das, was Marx „Klassenzusammensetzung“ nannte. Wie arbeiten die Menschen heute, unter welchen Bedingungen? Was sind rassistische und geschlechtsspezifische Spaltungslinien innerhalb der Arbeitsteilung? Und auf der Basis der aktuellen Klassenzusammensetzung haben wir die Organisierung der ArbeiterInnen und ihre Repräsentation, insbesondere durch die Gewerkschaften zu überdenken. Sie wurden meist von einem heute überholten Paradigma aus entwickelt, das industrielle Arbeiter (und hier vor allem männliche) als primäre Subjekte betrachtete.

pf: In „Commonwealth“ plädiert Ihr ausdrücklich gegen eine sozialistische und für eine kommunistische Perspektive. Wieso geht Ihr diesen Schritt?

Hardt: Der Begriff des Kommunismus wurde wie viele der Begriffe unseres politischen Vokabulars, korrumpiert, so dass er in der Standard-Verwendung sein Gegenteil meint. Statt auf die Abschaffung des Staates, meint Kommunismus hier absolute und permanente Staatskontrolle über Gesellschaft und Wirtschaft. Was für eine bizarre Umkehrung! Es wäre nötig, die Geschichte zu verfolgen, wie diese verkehrte Auffassung hergestellt und sowohl von der sowjetischen Propaganda als auch vom antikommunistischen Denken populär gemacht wurde. Um den Kommunismus neu zu begründen, schlagen Toni und ich vor, mit der Perspektive des Gemeinsamen (Common) zu starten. Es bezeichnet Formen des Wohlstands (Wealth), den wir auf offene Art und Weise teilen. Einerseits sind die Erde und ihre Ökosysteme wie Wasser, Luft und Boden Gemeingüter – oder sollten es zumindest sein. Wir teilen alle die Vorzüge dieser Elemente und teilen auch die Folgen von steigender Umweltzerstörung. Auf der anderen Seite sind die Resultate der immateriellen Produktion, wie Ideen, Sprachen und Affekte Gemeingüter, also Commons. Wir meinen mit den Commons in beiden Hinsichten Gemeingüter, die weder Privateigentum noch Staatseigentum sind. Die Gemeingüter sind die Basis dafür, den Kommunismus neu zu denken.

pf: Hast Du weitere Beispiele für diese Commons?

Hardt: Die Kämpfe um geistiges Eigentum sind ein nahe liegendes Beispiel. Wissen, Ideen, Informationen und Sprache verlieren ihr produktives Vermögen, wenn sie privatisiert sind und aufhören, Commons zu sein. Und noch immer hängt kapitalistische Akkumulation davon ab, über sie als Privateigentum zu herrschen. Die Commons stehen insbesondere in den Kämpfen um geistiges Eigentum an indigenem Wissen auf dem Spiel: Das Wissen der Amazonasvölker beispielsweise über die Heilkraft einer speziellen Baumrinde oder der indischen Bauern über Saatgut als Pflanzenschutzmittel. In den meisten Fällen beginnt die Auseinandersetzung damit, dass kollektives und gemeinsam geteiltes Wissen von einem Unternehmen übernommen und als Privateigentum verkauft wird. Bio-Piraterie ist das Wort, das oft verwendet wird, wenn nicht nur Wissen, sondern auch ganze Lebensformen, in die es eingebettet ist, dem Gemeinsamen entwendet und privatisiert werden. Zusätzlich ist es nötig das Ökosystem und die Erde als Gemeingut zu betrachten. Wir teilen offensichtlich die Auswirkungen der Umweltzerstörung und der globalen Erwärmung. Wir sollten nach Lösungen suchen, die unsere Interaktion mit der Umwelt in Formen des Gemeinsamen realisieren. Es scheint mir klar zu sein, dass Lösungen gescheitert sind, welche die Umwelt entweder als öffentliches Eigentum betrachten und deshalb auf Staatseigentum hinauslaufen, oder als Privateigentum sehen und zu neuen, fiktionalen Konstruktionen wie dem Emissionshandel führen. Wir brauchen Institutionen des Gemeinsamen, um die Gemeingüter zu gestalten.

pf: Ihr seid optimistisch: Die Transformation des Kapitalismus schafft neue Potentiale für emanzipatorische Kämpfe und die neuen Subjekte sind für demokratische und subversive Praktiken im Grunde besser vorbereitet.

Hardt: Ich muss gestehen, dass ich es hasse, wenn mich Leute als optimistisch bezeichnen, wenn sie denken, dass ich naiv bin und ignoriere, wie schlimm unsere Situation ist. Ich nehme an, dass ich positive Möglichkeiten mit kompensatorischer Absicht herausstelle. Wie oft hört man, wie unüberwindbar alle diese Kräfte der Ausbeutung, des Krieges und des Todes sind, die gegen uns sind? Wie Slavoij Zizek und Federic Jameson oft sagen: Beim Gucken von Hollywood-Filmen ist es viel leichter sich das Ende der Welt als das Ende kapitalistischer Herrschaft vorzustellen. In einer solchen Ausgangssituation ist es keine schlechte Idee, sich auf die Kräfte zu fokussieren, die wir real haben und zu sondieren, welche Art der Befreiung wir möglich machen können.

pf: Eine weitere Konsequenz ist also die notwendige Veränderung politischer Gegenstrategien. In „Commonwealth“ plädiert Ihr für eine „Revolution als Institution“. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Hardt: Toni und ich haben die Notwendigkeit von Institutionen herausgestellt, da es ein zentraler Konfliktpunkt in den sozialen Bewegungen der letzten Jahre war. Die Spontaneität der Rebellion und Revolte muss natürlich organisiert werden. Mit Institutionen meinen wir weniger eine bürokratische Struktur. Wir meinen eher etwas, das sich an der soziologischen Definition von Institutionen anlehnt: Ein stabiles Set an Gewohnheiten und sozialen Beziehungen. Unter diesem Gesichtspunkt sollten die Gewerkschaftsstrukturen, die wir erben, überdacht werden und an die neuen Bedingungen angepasst werden, genauso die Parteistrukturen. Wir haben die Effektivität und Attraktivität der existierenden politischen Organisationsformen neu zu bewerten und vielleicht Neue zu erfinden.

pf: Wie Du weißt, beschäftigt sich unser Magazin auch mit der neuen Linkspartei in der BRD. Was könnte hier der Beitrag von „Commonwealth“ sein?

Hardt: Es ist schwer die eigenen Beiträge zu beurteilen. Oft weise ich solche Fragen aus Bescheidenheit oder Distanz zurück. Wenigstens würde ich sagen, dass „Commonwealth“ gemeinsam mit unseren Büchern „Empire“ und „Multitude“ die Möglichkeit eröffnet, nicht nur produktive Diskussionen über die gegenwärtigen Formen ökonomischer Ausbeutung, Herrschaft im globalen System und dem anscheinend permanenten Kriegszustand zu beginnen, sondern auch neue Formen der Rebellion, der politischen Organisierung und der sozialen Alternativen zu erproben. Häufig verkommt die linke Debatte und Theoriebildung einzig zu einer Frage der Kritik. Linke AnalystInnen scheinen oft darum zu konkurrieren, wer die eleganteste oder verheerendste Kritik der Warenkultur, von Hollywoodfilmen oder Markenpolitik übt. Nur die ganze Zeit Kritik kann die Linke „sour and dour“ (sauer und mürrisch – die Red.) machen. In unseren Büchern fehlt der kritische Anspruch nicht, aber wir stellen auch Überlegungen an, die neue Zugänge vorschlagen, um neue, machtvolle Subjektivitäten anzuerkennen und soziale Alternativen zu schaffen. Vielleicht mag man nicht mit uns übereinstimmen, aber wir liefern solide Argumente, die debattiert werden können. Das ist etwas, auf das ich sehr stolz bin.