100 Jahre FC St. Pauli

nie wieder krieg, nie wieder faschismus, nie wieder 3. liga

Fußball Linke = FC St. Pauli. Die mythische Gleichung scheint ewig zu gelten – mindestens seit der Vereinsgründung in 1910. Doch als „linker“ Klub wurde St. Pauli erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre wahrgenommen – zu einer Zeit, in der rechte Tendenzen bei Fußballfans in vielen Vereinen zum Problem wurden. Rassistische Vorfälle beim HSV brachten damals manche dazu, sich dem unauffälligen Kiez-FC zuzuwenden. Ein weiteres Motiv war Volker „hört die Signale“ Ippig, der hier das Tor hütete. Volker entsprach gar nicht dem Profikicker-Klischee: Ein Hausbesetzer aus der Hafenstraße, der nach dem Abi zur Soli-Arbeit ins revolutionäre Nicaragua gegangen war. Fortan wehte über der Gegengeraden die erste Totenkopf-Fahne. Darunter sammelten sich immer mehr Fans, die schwarze Kapuzenpullis trugen, „Nazis raus“ riefen und statt Flachmann lieber einen Joint kreisen ließen. Mit einigen Freunden wurde auch ich damals zum regelmäßigen Millerntor-Pilger. Mit jeder Saison kamen mehr Linksalternative, darunter viele Frauen – Leute, die zuvor kaum in ein Fußballstadion gefunden hatten. Das Stereotyp vom linksautonomen Pauli-Fan, der in der „dritten Halbzeit“ besetzte Häuser gegen Wasserwerfer verteidigt, passte natürlich nie auf alle Fans. Aber es waren die erst kleinen, dann immer größeren Gruppen von Linken, die die Vereinskultur geprägt haben.

So ist die Hafenstraße längst ein ordentlicher e. V. mit Mietverträgen (aber immer noch außergewöhnlichen BewohnerInnen). Und der FC St. Pauli spielt in der 1.Liga, erklärt aber weiterhin trotzig, „not established since 1910“ zu sein. Tatsächlich sind es nicht nur die Totenkopf-Fahnen und AC/DCs „Hells Bells“ zu Spielbeginn, die das Besondere dieses Vereins ausmachen. St. Pauli war der erste Profiklub, der sich eine ausdrücklich antirassistische und antisexistische Stadionordnung gab, und der mit Corny Littmann einen bekennenden Schwulen zum Präsidenten wählte. Im deutschen Sport immer noch leider die Ausnahme ist auch die kritische Thematisierung der NS-Zeit in der Vereinsgeschichte. Nach wie vor – das bestätigen sogar Ethnologen – ist die „Widerständigkeit gegen das Leistungsprinzip geradezu konstitutiv für den Underdog der Liga“: „Das Gesetz des Stärkeren findet hier aus moralischen Gründen keine Anwendung.“ (1)

Auch deshalb bleiben Pauli-Fans ihrem Klub in schweren Zeiten besonders treu. Als unserem überschuldeten „Weltpokalsiegerbesieger“ in 2003 der Lizenz-Entzug drohte, sammelten die Fans zwei Millionen Euro. Selbst nach dem Abstieg in die Drittklassigkeit verkaufte St. Pauli mehr Dauerkarten als jeder Zweitligist. You’ll never walk alone! Für viele wurde der Verein zum Sinnbild für die Möglichkeit, in der kalten Welt kapitalistischer Konkurrenz linke Werte zu bewahren, die eigene Identität nicht zu verraten und sperrig zu bleiben. Gefühlte 50 % der Hamburger LINKEN besitzen eine Lebensdauerkarte, und fast jedeR fußballaffine Linke hat inzwischen wohl ein Totenkopf-Shirt im Schrank. Manchen stößt es ja sauer auf, dass Nonkonformismus dergestalt zur Ware wird. Ohne Marketingoffensive jedoch hätte der Verein vermutlich nicht bis heute überlebt. Und das hätte nur rechten Hools gefallen, die Begegnungen ihrer Klubs mit unserem vor allem als Gelegenheit zum „Zeckenklatschen“ sehen. Tja, sie müssen draußen bleiben, wenn alle anderen feiern: das 100jährige Jubiläum, den Aufstieg, tollen Fußball, nächsten Samstag. „Welcome to the hell of St. Pauli!“

Anmerkung:

(1) Laurence Heesch/Andrea Rützel: Will they (n)ever walk alone?, in: Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): FC St. Pauli – Zur Ethnographie eines Vereins, Münster (LIT) 2008, S. 128

Autor:

Jan van Aken sitzt derzeit regelmäßig sowohl auf der Gegengerade am Millerntor als auch im Bundestag für die LINKE. In der Vergangenheit saß er bereits vor dem AKW in Gorleben, in Schlauchbooten von Greenpeace und in Flugzeugen als Biowaffeninspekteur der Vereinten Nationen.