wie damals vor der französischen revolution

Interview mit der Autorin Darja Stocker

prager frühling: Am Maxim-Gorki-Theater in Be
rlin läuft „Zornig geboren“. Mit welchen Worten würdest Du in Dein Stück einführen?

Darja Stocker: Olympe de Gouges, Schriftstellerin während der Französischen Revolution, kritisiert die Versklavung der „Schwarzen“ und fordert gleiche Rechte für alle – auch für die Frauen. Dafür wird sie unter Robespierre guillotiniert. Was ist von ihren Forderungen heute übriggeblieben? Wie kommt man dazu, Widerstand zu leisten? Was setzt man aufs Spiel? Mein Stück folgt assoziativ diesen Fragen, durch die Zeiträume hindurch.

Zudem geht es um eine Familie: Die Großmutter kämpfte in der Resistance gegen die Nazis, der Vater war Teil der Jugendbewegung und die Tochter Sophie versucht, über ihren Beruf als Agrikulteurin, ihre Umwelt zu beeinflussen. Ihr unterschiedliches Verständnis von Widerstand löst Konflikte aus. Dann lernt Sophie den Maler Micha kennen, der von einer Reise aus der Sahara zurückkommt und sich um seine Freunde Zamu, Mery und Faly sorgt.

pf: Viele der Szenen, die die Gegenwart bearbeiten, widmen sich der Situation der Flüchtlinge …

Stocker: Eingeführt wird das Thema über Micha, der auf der Suche nach seinem Vater in einem Dorf in der Sahara Faly, Mery und Zamu kennenlernt. Er erlebt, wie sie darüber streiten, ob sie den Weg nach Europa wagen sollen. Zamu gibt sich kämpferisch: "Wenn alle, die fliehen wollen, denselben Mut, dieselbe Furchtlosigkeit, die Ausdauer von vorn zu beginnen, statt in die Flucht für unsere Träume hier einsetzen würden, wäre eine Revolution hier näher als Europa." Diese Sichtweise ändert sich, als sie zu viert in eine Flutkatastrophe geraten und es im Dorf keine Perspektive mehr gibt. Micha wird zurück nach Europa gebracht, bleibt aber mit den anderen in Kontakt. Er erfährt, dass sie auf dem Weg nach Europa sind und Faly am Grenzzaun erschossen wurde. Gegen Ende des Stücks gehen Micha und Sophie gemeinsam zu den Plantagen nach Almeria und finden Zamu – schwer verletzt. Mery hingegen wird von Sophies Vater gefunden – auf dem Straßenstrich. Das klingt alles drastisch. Für mich war genau dieses „zu viel“ das Thema.

pf: Welche szenischen Mittel nutzt Du?

Stocker: Zamu, Mery und Faly kommen nur in der Erzählung von Micha vor. Als Autorin konnte ich nicht aus der Perspektive der Flüchtlinge sprechen, sondern nur aus der Sicht von EuropäerInnen, die reisen können, wohin sie wollen, und die Begegnungen haben, die in manchen Belangen Grenzen sprengen in anderen Belangen ihre Unüberwindbarkeit erst deutlich machen. Der Regisseur Armin Petras hat das so umgesetzt, dass Micha und Sophie mit kleinen Puppen und Erde die Situation am Zaun nachbauen und in die Rollen ihrer Freunde schlüpfen. Das zeigt die Absurdität der Situation. Man ist zwar über Handy und Internet connectet, hat vielleicht sogar Freundschaft geschlossen und lebt doch in verschiedenen Realitäten.

pf: Was war für Dich Ansporn beim Entwickeln dieses Stücks?

Stocker: Vielleicht hat es mich beeinflusst, dass ich als Kind verschiedentlich mit „Flüchtlingen“ zu tun hatte. In unserer Wohngemeinschaft wohnte z. B. einer, der aus Ankara mit dem Boot übers Mittelmeer gekommen war. Für die Recherchen habe ich Berichte von Salinia Stroux gelesen, von Corinna Milborn und anderen, die es geschafft haben, hinter die Zäune zu schauen. Auch die Filme von Leona Goldstein und von Andrea Segre/Dagmawi Ymer oder das Buch von Omar Ba haben mir geholfen.

pf: Was ist das Faszinierende an der Figur des Flüchtlings?

Stocker: Bei der Figur des Flüchtlings gibt es mehrere Aspekte. Alle Menschen streben irgendwie nach einem besseren Leben, nach dem größeren Glück etc. Und manche Migrierenden mag dieser legitime Wunsch dazu antreiben, ihr Land zu verlassen. Andere konnten noch gar nicht wirklich ein Leben beginnen, da geht es nicht um eine Verbesserung, sondern um Mindestkonditionen. Wir können uns fragen: Wie schlimm müsste meine Situation sein, damit ich es aufs Spiel setze zu sterben oder eben, ein besseres Leben zu haben?

Für das Stück haben mich diejenigen Flüchtlinge besonders interessiert, die auf der Suche nach einem anderem System sind, die bereits in ihrem Land ein politisches Bewusstsein entwickelt haben und denen in Europa angekommen auffällt, dass eben diese Menschenrechte, die sie hier gesucht haben, für sie gar nicht gelten. Wie Zamu, der sich in Almeria für seine und die Rechte der anderen einsetzt und dafür umgebracht wird.

pf: Welchen spezifischen Zumutungen sind weibliche Flüchtlinge ausgesetzt?

Stocker: Aus Interviews habe ich entnommen, dass sie in den Gefängnissen in Lybien missbraucht werden und dass sie dieselbe körperliche Gewalt erleben wie die Männer, z. B. an den Armen aufgehängt zu werden. In den Städten, wo sie während der Flucht festsitzen, müssen sie "für alles und jedes einem Mann hinterherlaufen". Sie sind auch Opfer von Menschenhandel sowohl in Saudi Arabien, Äthiopien, wo sie als Haushaltssklavinnen gehalten werden und in Europa, wo sie sich prostituieren, um die "Schulden" der Fahrt zu bezahlen.

Besonders denkwürdig ist, dass immer mehr Frauen auf der Flucht sind, um patriarchalen Strukturen zu entfliehen. Doch dann geraten sie wieder in genau diese Strukturen. Das plakativste Beispiel ist das der jungen Frau, die einer Zwangsheirat entfliehen will und dann in Europa zur Prostitution gezwungen wird.

pf: Im Programmheft gibt es nicht nur Informationen zu Deinen ästhetischen Konzeptionen, sondern auch zur Festung Europa. Was kritisierst Du an der Grenzpolitik der EU?

Stocker: Europa ist mitschuldig am Klimawandel und an der Situation vieler afrikanischer Länder. Menschen fliehen aus unterschiedlichen Gründen. Diese müssen gemäß der Genfer Konvention angehört werden. Die EU hat aber ein Sondergesetz erlassen, wonach man erst, wenn man mit beiden Füssen auf der andern Seite der Grenze steht, ein Asylgesuch stellen darf. Somit zwingen sie die Flüchtlinge, über den Seeweg oder die Hochsicherheitszäune ins Land “einzubrechen“. Und diese letzte Möglichkeit wiederum verhindert die EU, indem sie mit Hilfe von Frontex, der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an der Außengrenze der EU, die Seewege derart absperren, dass die Flüchtlinge immer weitere Wege in immer gefährlicheren Witterungen wagen müssen. Sie nehmen ihren Tod in Kauf. Die EU, im speziellen Italien, hat mit Lybien einen Vertrag abgeschlossen, mit dem Ziel, die Flüchtlinge bereits in den Nordafrikanischen Ländern abzufangen, wo man sich nicht um die Menschenrechte scheren muss. Die Folgen davon sind Missbrauch der Frauen, Gewalt und Sklavenhandel, da die Schlepper dafür bezahlt werden, Flüchtlinge über die Grenze zu bringen, die sich dann freikaufen müssen. Es gibt Flüchtlinge, die zwei Jahre in einem Gefängnis mitten in der Wüste sitzen und dabei den Verstand verlieren. Frontex arbeitet direkt mit der lybischen Polizei zusammen, hat aber noch keines dieser Gefängnisse von innen gesehen. Es ist eine private Firma, die ihre Aufgaben outgesourct hat.

pf: Doch es geht nicht nur um Grenzen gegenüber Migranten, die an der Außengrenze der EU errichtet werden …

Stocker: Auch innerhalb der EU wird eine Trennungspolitik betrieben. Am extremsten betrifft das die, die in Heimen weit außerhalb der Stadt leben und der Residenzpflicht unterliegen. Sie sind von elementaren Menschenrechten ausgeschlossen. Und in Abschiebegefängnisse sind Menschen eingesperrt, ohne je ein Verbrechen begangen zu haben. Olympe de Gouges sagt in meinem Stück: Es darf keine faulen Löcher in der Demokratie mehr geben.

pf: In einem Gespräch über „Zornig geboren“ sprichst Du vom Zufall der Geburt. Soll heißen?

Stocker: Ein Argument der Französischen Revolution war, dass man den Zufall, also die Ungleichheit der Geburt, abschaffen müsse. Niemand sollte mehr Privilegien haben, nur weil er/sie zufälligerweise in eine adlige Familie hineingeboren wurde. Das ist heute immer noch ein Thema. Allein durch die Klimaerwärmung gibt es Länder, in denen der Großteil keine Perspektive hat. Die Flüchtlinge aus Afrika werden nicht als Individuen mit gleichen Rechten behandelt, sondern als anonyme Masse. Auch innerhalb von Europa spielt es eine Rolle, mit welchem Geschlecht man geboren wurde, ob man einen ausländischen Namen trägt, welchen Bildungsgrad die Eltern haben. Die derzeit herrschende Politik verstärkt eher noch die Ungleichheit durch Geburt, also die Chancen-Ungleichheit, so dass sie sich über Generationen fortführt. Wie damals, vor der Französischen Revolution.

pf: Wie viel Rebellion steckt in „Zornig geboren“?

Stocker: Mich hat interessiert: Auf welche Weise können die Figuren, jede in ihrer Epoche, rebellieren? Sie sind alle in ihrer Situation vergleichsweise privilegiert. Was lässt dieses zu-wenig-aber-doch-ein-bisschen-privilegiert-sein an Rebellion zu? Am meisten rebelliert Olympe, sie legt sich als Ex-Edelprostituierte mit Sklavenhändlern an, nimmt an der Revolution teil und korrigiert die Menschenrechtserklärung, bis sie wirklich alle Menschen meint. Die jungen Leute im Stück sind hingegen noch sehr auf der Suche.

pf: Und welche Rebellion gegen die Abschottungspolitik hast Du außerhalb des Theaters aufgespürt?

Stocker: Es gibt ein Projekt, dass die Erntehelfer in Almeria darin unterstützt, sich selbst zu organisieren. In der Schweiz fand letztens eine Besetzung eines Parks in Bern statt, wo sich einige hunderte Papierlose tagelang niedergelassen haben, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. In Deutschland gibt es die Organisation von Flüchtlingen selbst, The Voice, die im Juni 2010 in Jena einen Marsch veranstaltet hat, um den Toten im Mittelmeer zu gedenken und ihre Präsenz zu legitimieren. Dann gibt es eine von „Heiminsassen“ organisierte Self-Empowerment-Bewegung.

Bei den Recherchen habe ich gemerkt, dass es wichtig ist, die Abschottungspolitik als Teil einer Trennungspolitik zu verstehen, die jeden betrifft. Dass es hier nicht um ein paar Flüchtlinge geht, sondern darum, dass in der gesamten Gesellschaft Leute ausgegrenzt werden.

pf: Eine frühere Ausgabe des prager frühlings hat sich mit dem Verhältnis von Politik und Kunst beschäftigt. Verstehst Du Deine Werke als engagierte Kunst?

Stocker: Das Theater hat die Möglichkeit, die Auswirkungen von globalen Veränderungen auf die persönlichen Beziehungen zu untersuchen. Neben den Dialogen kann es eine explizite Reflexionsebene enthalten. Für mich ist es wichtig, nicht nur Sprachteppiche erklingen zu lassen, sondern Dinge auch sichtbar zu machen, in Szenen.

Auf dem Arbeitsmarkt z. B. müssen die Leute emotional funktionieren. Wer das nicht kann, hat nicht etwa Widersprüche aufgespürt, sondern gilt als krank. Also kann es bereits engagiert sein, Emotionen auf der Bühne eine Wichtigkeit zu verleihen, die im Alltag kleingeredet werden. Zum Beispiel den Zorn, den man spürt, wenn man merkt, dass man es sich nicht länger von der schweigenden Mehrheit verbieten lassen kann und will, sich zu wehren.

Mich interessiert es, in meinen Stücken Menschen zu zeigen, die auf der Suche sind, die eine Entwicklung erahnen. Auf der Bühne können Figuren schon mal ausprobieren, wie es wäre wenn ... . Sie können auch mal ein selbstverständliches politisches Bewusstsein haben statt immer schon selbstverständlich an nichts mehr zu glauben. Ach das bietet Konflikte genug. Im Theater können sie die Leere aushalten, die kommt, wenn man die Realität so nicht mehr hinnehmen will. Spannend, was dann kommt. Man kann einerseits Bilder, Sätze, die von den Medien und der Politik kommen, auf der Bühne über die Sprache hinterfragen oder einfach das Andere zeigen. Im besten Fall schafft man es, das Publikum mitzunehmen auf eine Reise, in der durch die künstliche Absurdität des Theaters ganz andere Aspekte dieser Realität sichtbar werden.

pf: Anders gefragt: Ist die Zeit reif für ein neues Verhältnis zwischen Kunst und Politik?

Stocker: Ja, ich hoffe sehr, dass es noch andere KünstlerInnen gibt, die ihr politisches Bewusstsein nicht wegsperren können und politisch Engagierte, die nicht ohne Kunst können. Die möchte ich gern treffen. Es braucht unbedingt mehr direkte Zusammenarbeit. Ich möchte nicht ins Theater gehen und den Inhalt eines angeregten Nachmittagskaffee-Gesprächs im Theater reproduziert sehen. Die allermeisten Theaterstücke könnten inhaltlich sehr viel weiter gehen.

pf: Gibt es schon ein neues Projekt, auf das wir uns freuen können?

Stocker: Ich bin ich dabei, in einer Interviewreihe den Dialog zu suchen mit Leuten, die zumindest für den Moment eine Form des Widerstands gefunden haben. Eindrücke davon werden wohl in meinen nächsten Auftrag mit einfließen, eine Ko-Produktion der Theater in Weimar und Leipzig.

pf: Vielen Dank für das Gespräch.

Autoreninfo:

Darja Stocker begann in Zürich ein Studium der Ethnologie mit der Frage: Was tun Menschen unter welchen Umständen? Sie wechselte mittendrin ans Theater und nach Berlin. Ihr erstes Stück „Nachtblind“ spielte an vielen Orten und ermöglichte es ihr weiter zu schreiben, nun mit einer neuen Frage: Unter welchen Umständen leisten Menschen Widerstand? Oder viel eher: Warum nicht? Protest statt Prozac. Das Stück „Zornig geboren“ entstand im Rahmen eines Work-in-Progress mit dem Maxim-Gorki-Theater.