leben am anfang-ende

Eine Kindheit in einem deutschen Flüchtlingslager

Jörg Schindler

Fatma wohnt seit 10 Jahren im Asylbewerberheim Möhlau in Sachsen-Anhalt. Sauer sind dort nicht nur die Äpfel. Im letzten Jahr ist Möhlau in die Schlagzeilen der lokalen Zeitung geraten. Denn Möhlau hat ein Asylbewerberheim, und das macht „Probleme“. Das finden jedenfalls viele: die BewohnerInnen in Möhlau, das Ordnungsamt, die Kreistagsmitglieder aller Parteien und der Landrat aus den Reihen der Linkspartei, die Flüchtlingsinitiative aus Halle, der Möhlauer Bürgermeister, der zwar parteilos ist, aber ebenfalls auf dem Ticket der Linkspartei reist.

Problemfall im Wald

Aufgeschreckt wurde die Öffentlichkeit, als ein Bewohner nachts mit schweren Brandverletzungen ins Lager zurückkehrte und trotz ärztlicher Hilfe starb. Die Befürchtung eines rassistischen Überfalls machte die Runde, konnte aber ins Reich der Spekulation verwiesen werden. Offenbar hatte sich der Tote die Brandverletzungen in einem Döner-Imbiss am anderen Elbufer zugezogen. Die Hintergründe sind ungeklärt; der fade Beigeschmack bleibt. Die Gemeinschaftsunterkunft, wie das Lager im Verwaltungsdeutsch heißt, liegt auf einem ehemaligen sowjetischen Kasernengelände mit einem abbruchreifen Gebäudekomplex. Es ist im Besitz eines Unternehmens, das mehrere Asylbewerberheime betreibt. Eines davon eben hier, seit 1998, als der Kreistag beschloss, eines in Möhlau einzurichten.

Identität ungeklärt

Damals war Fatma zwei Jahre alt. Vermutlich lebte sie in Syrien, als die BürgerInnenvertreter ihre „Asylanten“ in den Wald hinter Möhlau schickten. Sagt sie jedenfalls, als ich sie in der Wohnung ihrer Eltern, Fazi und Leyla, treffe. Weiteren Fragen weicht sie aus. Nein, ihre Eltern haben nicht darüber geredet, wie sie nach Deutschland geflüchtet sind; nein, sie wisse es nicht. Vielleicht liegt es daran, dass zufällig die syrischen Pässe verloren gingen. Damit ist die Identität ungeklärt und jedenfalls – das deutsche Ausländerrecht ist da extrem korrekt – ein Abschiebehindernis geschaffen. Geklärt ist jedenfalls, dass ihr 10 Jahre alter Bruder Ibrahim geboren wurde, als Fatma schon in Möhlau wohnte. Wie auch Maja, die Kleinste; sie ist jetzt drei Jahre alt. Um die ungeklärte Identität rankt sich seitdem das Leben von Fatma. Sie ist Anfang und Ende. 10 Jahre dauert jetzt der Stellungskrieg. Die Beamtin der Ausländerbehörde forderte: „Bringt uns Eure Pässe, dann bringen wir Euch zurück.“ Tja, dann bleibt’s halt so, sagt Fatma schulterzuckend.

„Dann bleibts halt so“

Wie soll das weitergehen, frage ich. Fatma zuckt wieder die Schultern. Was denn ihre Perspektive sei, frage ich weiter – und ärgere mich sofort über diese Frage. Ja, was, bitteschön, soll mir Fatma darauf antworten? Dass sie gern Bundeskanzlerin werden würde? Oder Astronautin fürs deutsche Max-Planck-Institut? Fatma sagt: „Altenpflegerin.“ Altenpflegerin halt, ein normaler Beruf vieler Realschülerinnen. In meinem Kopf rattert die Frage, die Anfangsendefrage: Ob eine Berufsausbildung überhaupt geht, mit „ungeklärter Identität“ als abgelehnte Asylbewerberin?

Ausländerfeinde gibt’s hier nicht

Aber die Perspektivenfrage stellt sich doch. Denn Fatma kommt in die 7. Klasse der Sekundarschule Ferropolis in Gräfenhainichen. Drei Mädchen und einige Jungs aus dem Möhlauer Wald besuchen sie. Früher, als Fatma noch in die Grundschule nach Möhlau ging, waren es fast 30 Asylbewerberkinder. Böse antirassistische Zungen behaupten ja, die Möhlauer BürgerInnen hätten aus zwei Gründen ein Interesse an ihren WaldbewohnerInnen: Erstens erhalten die Waldkinder die notwendigen Schülerzahlen der örtlichen Grundschule und bewahren sie so vor der Schließung. Zweitens erfreut sich Möhlau dank des Asylbewerberheims etwa 500 Phantombürgern. Das sind Asylbewerber, die gemeldet, aber schon seit Jahren untergetaucht sind. Sie werden trotzdem bei der kommunalen Mittelzuweisung berücksichtigt. Ausländerfeinde gibt es hier also nicht. Nur: Ganz geheuer sind ihnen die knapp 200 BewohnerInnen doch nicht. Im Sommer hatten sie ein Lagerfeuer veranstaltet. Sofort waren die Möhlauer vor Ort. „Schnell ausmachen!“ riefen sie, und als es geschah, klatschten sie. Fatma nimmt das mit ihrem trotzigen Zynismus: „Jedenfalls wissen sie jetzt, dass wir im Wald wohnen.“ Nein, natürlich ging es da ausschließlich um die Waldbrandgefahr. Jedenfalls geht Fatma nicht gern in den Ort, denn „die gucken uns alle nur so an.“

Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch quasi asylbewerberkonjunkturell läuft es seit Jahren in Möhlau nicht gut. 500 waren sie, als Fatma hierher kam. 200 BewohnerInnen sind es jetzt noch. „Es ist immer langweiliger geworden, weil viele Leute weg sind“, findet sie. Nur noch ein Block ist bewohnt; die Familie wohnt in der 3. Etage des letzten Eingangs. Manchmal trifft sich Fatma mit Jacqueline, ihrer einzigen deutschen Freundin. Mit Jacqueline geht Fatma zur Schule. Mit den anderen MitschülerInnen sei es schwierig. Auch mit Jacqueline ist es nicht immer einfach, erzählt Fatma. Sie treffen sich nur in Gräfenhainichen. Jacquelines Mutter hat nichts gegen die Freundschaft ihrer Tochter zu Fatma. Aber nach Möhlau in den Wald darf Jacqueline nicht. „Die Mutter sagt: Da lass ich mein Kind nicht hin“, so Fatma. Selbst war Jacquelines Mutter noch nicht in dem Lager, warum auch. Aber abends ist auch für Fatma in Gräfenhainichen das Leben wieder am Anfang-Ende: „Ich darf nicht in die Disco, mein Vater erlaubt es nicht.“

Rudi Dutschke in Möhlau

Möhlaus Asylbewerberkonjunktur droht derweilen das vollständige Aus. Einer der Totengräber ist Salomon Watchouchou. Der politische Aktivist und Wohnheimssprecher wohnt wie Fatma im Lager. Mit starkem Akzent, trotzdem rhetorisch gewandt, beklagt er die Zustände in Möhlaus Asylbewerberheim: Die abgelegene Lage, die Ratten, die Gutscheinausgabe statt Bargeldzahlung. Nach zwei Minuten ist er am Kern angekommen: Gestikulierend prangert er die Zustände als politischen Rassismus an. Dann ist Salomon nicht mehr zu bremsen. Er ist ein bisschen der Rudi Dutschke in Möhlau; nur sind die Waldbaracken mit den verblassten sowjetischen Soldatenbildern nicht die Freie Universität. Sichtbar lichten sich die Reihen der ZuhörerInnen. Auch Fatma hat genug gehört, was sie sowieso schon weiß.

Trotzdem gibt der Erfolg Salomon Recht. Er lancierte Presseberichte vom Bauzustand des Wohnblocks. Er führte Kreistagsmitglieder zu den Kakerlaken, zerbrochenen Scheiben, den verwahrlosten Treppenhäusern. Und zu der zehnköpfigen Familie in der 60-Quadratmeterwohnung, die täglich ihre Matratzen aus Platzmangel zusammen- und vor dem Schlafen wieder auseinanderstapelten. Ämter mussten aktiv werden. Der örtliche Linkspartei-Landrat geriet unter Druck, der Betreiber, der täglich mehr als 7 Euro je Tag und Bewohner kassiert, ebenfalls. Die Großfamilie wohnt jetzt in Wittenberg. Grüne und LINKE forderten die Schließung des Lagers; auch die örtliche Linkspartei-Landtagsabgeordnete, pikanterweise migrationspolitische Sprecherin der Fraktion, und der Landrat schwenkten ein. Ab 2011 wird das Lager in Möhlau geschlossen. Die Grundschule vielleicht am Ende auch.

Umzug. Fatma findet das positiv. Aber sie will auch nicht hier bleiben. „Köln“ oder „Hamburg“ sagt sie, wenn man sie fragt. Denn da wohnen mehr Ausländer, so Fatma, und auch Freunde der Familie. Mit ihrem Bruder Ibrahim streitet sich Fatma ständig – auch weil sich sie sich zu dritt mit ihrer Schwester ein Zimmer teilen. Dann sitzt sie irgendwann im Wohnzimmer. Sie surft im Internet oder schaut Fernsehen. Oder geht zu ihrem Lieblingsort, dem Baum mit den sauren Äpfeln. Wir gehen dorthin. Aus dem Wald heraus führt ein Weg über diese staubige Straßenzufahrt, und hinter dem Straßengraben dschungelt dichtes Gebüsch. Dahinter steht ein Apfelbaum, and dem grüne Äpfel dranhängen. „Die werden später rot“, sagt Fatma, reißt einen ab und beißt kräftig hinein. Ich mach das nach, doch ein Biss lässt meine Zähne gefrieren. „Ich find sie gar nicht mehr so sauer“, meint Fatma, und: „Ich mag das.“ Kein Wunder: Fatma mag auch Horrorfilme. Fernsehen ist überhaupt eine der Hauptbeschäftigungen im Block. „Was soll man auch sonst machen? Wir machen halt nix“, sagt Fatma. Und sagt, dass sie zum Glück in der Schule noch nicht nach ihren Ferienerlebnissen gefragt wurde. Nur, warum sie hier sei, und zwar von ihrer Lehrerin. „Weil wir ein besseres Leben haben wollen“, hat Fatma geantwortet. Damit war die schöne Multikultifragerei abrupt zu Ende, und jetzt bleibts halt so.

Autoreninfo:

Jörg Schindler ist stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Kreistag des Landkreises Wittenberg und arbeitet mit im Bündnis „Runder Tisch Möhlau“, das sich für die Auflösung der Asylbewerberunterkunft in Möhlau einsetzt. Die Frage, weshalb dies erst ab 2011 gelang, verdrängt er regelmäßig.