die figur des flüchtlings

Fünf Grenzmarkierungen zu einem schillernden Begriff

Stephan Dünnwald

Wer den Flüchtling definiert, bestimmt zugleich den Nicht-Flüchtling. Der Diskurs über Flüchtlinge ist in Abhängigkeit geraten, wird überflügelt von einem Diskurs, der in legale und illegale, oder besser: erwünschte und unerwünschte Migration unterscheidet, denn Legalität wie Illegalität wird zugewiesen. Für Flüchtlinge gilt in Europa ein Schutzversprechen, das desto kleiner wird, je weiter sich ein Flüchtling der Grenze eines potentiellen Aufnahmelandes nähert. Ist diese Grenze einmal überschritten, so gilt der Schutz als Ausnahme, vorbehalten nur wenigen „echten“ Flüchtlingen. Ein Flüchtling begibt sich außerhalb des Landes, in welchem er als Bürger Rechte und Schutz beanspruchen kann. Damit ist der Begriff des Flüchtlings unlösbar mit der Vorstellung des Nationalstaats verknüpft. Nationalstaaten verfolgen, Nationalstaaten bieten Schutz. Das gilt selbst noch für die Anerkennung nichtstaatlicher Verfolgung als Fluchtgrund. Noch immer ist der Staat der Bezugspunkt, nun eben der Staat, der seine Bürger nicht zu schützen weiß. Nicht nur diese nationalstaatliche Bindung scheint Lösungen des Flüchtlingsproblems inzwischen eher zu blockieren.

Die Dominanz des Illegalen

Die Verschärfung westlicher Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen führt zu einer Vorverlagerung der Grenzkontrollen und zu einer Akzentuierung der Unterscheidung zwischen Flüchtling und Migrant_in, die in der Realität eher fließend und changierend ist. Bis zur Anerkennung durch eine fremde Nation ist der Flüchtling ohne Schutz, nur eine Spielart der als illegal markierten Migration. Dies ist umso bedeutsamer, als dieses europäische Konzept längst in Transit- und Herkunftsländer exportiert wird. Wer einseitig den Flüchtlingsschutz betont, gibt Staaten gegenüber „nur“ Illegalen einen Freibrief, wer die Unterscheidung aufgibt, schwächt den Schutz, dessen Flüchtlinge bedürfen. Ein Dilemma, das nicht aus dieser Unterscheidung heraus zu lösen ist, sondern nur durch die Stärkung von Rechten „illegaler“ Migrant_innen. Ungezählte Menschen stauen sich inzwischen im Transit, mittellos, oft krank und zermürbt, gefangen in Internierungslagern, aus denen es weder ein Vor noch ein Zurück gibt. Viele sind schutzbedürftig, aber sind sie auch Flüchtlinge?

Im Westen weitgehend unbeachtet, kommt das Gros der Flüchtlinge keineswegs nach Europa, sondern verharrt auf Jahre, oft Jahrzehnte, in unterversorgten Flüchtlingslagern in der so genannten Dritten Welt. Die Diskussionen um Resettlement, also um eine Aufnahme dieser Flüchtlinge durch westliche Staaten, haben es bislang nicht geschafft, das entfernte Elend dieses „refugee warehousing“ in den Blick zu nehmen. Ein imaginierter Ansturm auf die „Festung Europa“ verschleiert die Wahrnehmung der tatsächlichen Flüchtlingsproblematik.

Viktimisierung – der Flüchtling als Opfer

Die postulierte Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingen unterstützt eine Sichtweise, die Flüchtlinge allein aus der Opferperspektive betrachtet. Dazu trägt auch die diskursive Trennung zwischen Flüchtlingen und „Wirtschaftsmigranten“ bei, die den einen eine passive, erleidende, den anderen eine aktive und unternehmerische Rolle zuschreibt. Der Flüchtling, so die gängige Wahrnehmung, wird vertrieben, der Migrant folgt seinem eigenen Vorteil. Was für Flüchtlinge und Migrant_innen gilt, gilt ebenso für die Aufnahmeländer. Kann gegenüber Migrant_innen Kosten und Nutzen abgewogen werden, so gilt die Aufnahme von Flüchtlingen als Verpflichtung, und entzieht sich diesem Kalkül (selbst wenn auch diese Unterscheidung mehr normativ als unbedingt real ist). So ist es nicht allein der Abschreckung von Flüchtlingen, sondern auch der Plausibilität dieser Unterscheidung geschuldet, dass Asylsuchende in Lagern interniert, mit weitreichenden Arbeits- und Bewegungsverboten belegt werden, während die fluide Existenz und irreguläre Beschäftigungsverhältnisse von illegalen Migrant_innen weitgehend hingenommen werden.

Flucht vor dem „Klima“

Die Diskussion um klimabedingte Migration sprengt die bisherigen Vorstellungen vom Flüchtling, nicht allein, weil die prognostizierten Dimensionen immens sind. Sind Menschen, die aufgrund von Klimaveränderungen, Flut, Dürre oder schleichendem Ausbleiben von Ernteerträgen ihren Lebensort verlassen müssen, nun Flüchtlinge? Die Definition der Genfer Flüchtlingskonvention schließt diesen Fall nicht ein. Sollte die Definition erweitert werden um diese Bedrohung? Oder soll eine andere, eigenständige Regelung gefunden werden? Aus Sorge, den bisher geltenden Flüchtlingsbegriff und den damit verbundenen Schutz aufzuweichen, tendieren Interpret/-innen mehrheitlich zu einer neuen, zu findenden Regelung, und sprechen von Klimamigration statt von Klimaflucht. Tatsächlich lässt das Thema Klima jede allein nationalstaatliche Bezugnahme entgleisen, teilt vielmehr die Welt in einen verursachenden Norden und einen von „Katastrophen“ gezeichneten Süden.

Neubestimmung

Die Zeit scheint reif für eine grundsätzliche Neubestimmung des Flüchtlingsbegriffs, eine Neuorientierung, die den Schutz von Flüchtlingen stärkt, aber nicht zu Lasten irregulärer Migration geht, die Lösungen für Flüchtlinge bietet statt Internierung und Notversorgung, und die Verantwortlichkeiten neu festschreibt – auch über den Nationalstaat hinaus. Die letzte grundlegende internationale Einigung zum Flüchtlingsschutz geschah im Nachgang erschütternder Ereignisse. Vielleicht gelingt es angesichts drohender klimabedingter Fluchtbewegungen das nächste Mal im Vorgriff zu entscheiden.

Autor:

Stephan Dünnwald arbeitete für den Bayrischen Flüchtlingsrat und PRO ASYL. Er forscht aktuell zu den Effekten von Migration auf (westafrikanische) Herkunftsgesellschaften.