die ökonomie der talente

Selbsttäuschungen in der Kreativindustrie

Cornelia Koppetsch

Ein kritischer Blick auf die Kreativwirtschaft enthüllt eine Fülle von Täuschungen und Selbsttäuschungen, dies gilt in politischer wie auch in psychologischer Hinsicht. Zunächst die politische Täuschung: Die Branche gilt als Hoffnungsträgerin für wirtschaftliche Expansion – vor allem im strukturschwachen Berlin, wo inzwischen jeder zehnte Erwerbstätige in der Kreativwirtschaft beschäftigt sein soll. Die Erklärung für diesen paradoxen Sachverhalt liefert der amerikanische Regionalökonom Richard Florida: Kreative werten urbane Zentren auf und bevorzugen Städte mit interessanten Lebensstilen. Sie folgen nicht der Arbeit, vielmehr folgt die Arbeit ihnen. Sie siedeln nicht dort, wo sie die bestbezahlten Jobs vorfinden, sondern dort, wo sie die höchste Toleranz und die größte Vielfalt an Lebensformen vorfinden. Dies führe dazu, dass gerade ökonomisch strukturschwache Städte von der Ansiedelung der Kreativmärkte profitieren.

Boomende Kreativwirtschaft?

Doch etwas stimmt nicht an dem Bild. Wenn dieser Wirtschaftsfaktor tatsächlich an Bedeutung gewinnt, warum schlägt sich dies nicht in steigenden Gehältern und vorteilhaften Arbeitsbedingungen nieder? So kommt Sigrid Betzelt zu dem Ergebnis, dass ein Viertel der Kulturdienstleistenden ein jährliches Gesamteinkommen von ca. 9.800 Euro nicht überschreitet. Die Mehrheit erzielt ein Einkommen von ca. 16.900 Euro – ein Einkommen, das trotz hoher Qualifikation kaum das Einkommen eines deutschen Durchschnittsverdieners erreicht. Fachleute sprechen von einer „Prekarisierung auf hohem Niveau“.

Überdies stellt sich die Frage, ob die Zahl der kreativen Dienstleistungen wirklich steigt. Handelt es sich bei der scheinbaren Expansion vielleicht nur um eine Verlagerung von Beschäftigungsmustern innerhalb bereits bestehender Wirtschaftszweige? Wenn dem so wäre, hätten wir es nicht mit einer Aufwertung der Kreativwirtschaft, sondern, im Gegenteil, mit einer Abstufung bereits bestehender Beschäftigungsverhältnisse zu „Kreativberufen“ zu tun.

Für diese These sprechen eine Fülle von Indizien: Aufgrund der unklaren Abgrenzung der Kreativberufe von nicht-kreativen Tätigkeiten werden immer mehr Teilmärkte unter dem Label „Kreativwirtschaft“ erfasst. Auch etablieren sich neue Arbeitsformen an den Schnittstellen zwischen neuen Kommunikationstechnologien, kreativen und nicht-kreativen Arbeitsfeldern, die eine Ausweitung projektförmiger Beschäftigungsverhältnisse begünstigen, welche oft kurzerhand dem Kreativsektor zugerechnet werden. Der Rückzug der öffentlichen Hand aus den Kulturbetrieben tut ein Übriges, um aus staatlich alimentierten Opernsängern, Kuratoren, Schauspielern und Philologen prekär beschäftigte „Kreative“ mit ungesicherten Berufslaufbahnen werden zu lassen. Da in der Kreativwirtschaft meist keine Betriebsräte oder kollektive Beschäftigungsgarantien existieren und die Rechte der Beschäftigten gering sind, kommt die „Expansion“ der Kreativwirtschaft in Wirklichkeit keinem realen Wirtschaftswachstum, sondern einer Ausweitung der Zone der Verwundbarkeit unter Hochqualifizierten gleich.

Die Selbsttäuschung der Kreativen

Auch die Beschäftigten selbst unterliegen Täuschungen über ihre gesellschaftliche Situation. Die meisten der von mir in einer Studie befragten Kreativen betrachten ihre Erwerbsformen und Arbeitsverhältnisse nicht nur als freiwillig gewählt, sondern sogar als gesellschaftliche Pionierleistung. Sie sehen keinen Widerspruch zwischen der marktlichen Radikalisierung ihrer Erwerbsformen und dem Anspruch auf Sinnstiftung und Kreativität. Ja mehr noch, sie erheben den Wettbewerb der Ideen und Talente zum Leitbild ihres beruflichen Handelns. Wurden die Bereiche der künstlerischen und kulturbezogenen Arbeit einst als Gegenwelt zum Kapitalismus verstanden, so prallen hier heute Ökonomie und Persönlichkeit direkt aufeinander. Der Marktwert der eigenen Ideen ist persönlich, spiegelt also den wirtschaftlichen Wert der Persönlichkeit wieder, und die eigene Persönlichkeit wird an der Börse der Aufmerksamkeitsökonomie gehandelt. Ideen- und Kreativwettbewerbe entscheiden über Bekanntheitsgrad und Prominenz. Im Übrigen wird überprüft, wie viele Einträge sich bei Google unter dem eigenen Namen finden. Kreative Leistungen und Fähigkeiten beziehen sich dann nicht mehr auf umgrenzte Sachverhalte, sondern es geht um Erfolg und Misserfolg überhaupt. Schließlich will man innerlich an der Arbeit beteiligt sein.

Dies mindert die Distanz zur Arbeit und zur Berufsrolle. Der Einzelne erlebt Kritik wie auch Lob nicht mehr als Würdigung seiner Leistung, sondern als Urteil über den Wert seiner Identität. Das Pochen auf die eigene Subjektivität und der Wunsch, sich in der Arbeit selbst zu verwirklichen, machen blind für den abhängigen Status und die Unsicherheiten des „kreativen“ Lebensentwurfs. Abhängigkeiten werden verleugnet und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse aus dem Blickfeld verbannt – wenigstens so lange, wie die Weiterbeschäftigung oder der Übergang in das nächste Projekt gelingt. Auf Gefühle der Abhängigkeit und der Unsicherheit reagieren die meisten Kulturschaffenden mit forcierter Selbstbehauptung.

Die Kreativen zahlen einen hohen Preis für die gefühlte Autonomie: Den Preis der individuellen Selbstzurechung ihres biografischen Scheiterns. Dies zeigt eine an der TU Darmstadt durchgeführte Pilotstudie „Erwerbsunsicherheiten und Lebensführung“ im Milieuvergleich. In dieser Studie wurden Männer und Frauen befragt, die aufgrund einer unfreiwillig unsicheren Erwerbssituation vom sozialen Abstieg bedroht sind. Wir wollten wissen, wie die Betroffenen auf ihre Situation reagieren und versuchen, diese zu bewältigen. Unterschieden wurde zwischen Facharbeitern, den Bildungsaufsteigern in sozial- und kulturpflegerischen Berufen (Geisteswissenschaftler, Sozialarbeiter, Kreative etc.) und den jungen Etablierten mit bürgerlicher Herkunft (Eltern: Akademiker).

Facharbeiter denken „soziologischer“

Die Ergebnisse zeigen deutliche Milieuunterschiede hinsichtlich der Ausdeutung und Bewältigung erwerbsunsicherer Situationen. So halten Facharbeiter/-innen umso hartnäckiger an traditionellen Leitbildern des Normalarbeitsverhältnisses fest, je geringer ihre Chancen sind in ein solches zurückzukehren. Dennoch geht es ihnen nicht schlecht, oder jedenfalls nicht schlechter als den Bildungsaufsteiger/-innen aus den sozialwissenschaftlichen und kulturpflegerischen Intelligenzberufen. Denn im Unterschied zu letzteren neigen Facharbeiter/-inne nicht dazu, ihr Schicksal als etwas Individuelles zu begreifen, zumal sie wenig Neigung verspüren, sich in der Arbeit zu verwirklichen oder innerlich an ihr beteiligt zu sein. Entsprechend deuten sie auch ihre aktuelle Situation der Erwerbslosigkeit oder Erwerbsunsicherheit weniger als persönliches Scheitern, sondern als Versagen gesellschaftlicher Strukturen und kollektiver Akteure (Gewerkschaften, Arbeitgeber etc.). Damit denken und handeln sie weitaus „soziologischer“, d.h. stärker auf Strukturen bezogen, als die Kreativen. Die kollektive Identität erweist sich wie eine lebensweltliche Barriere gegen die Selbstzurechnung beruflichen Scheiterns.

Demgegenüber reagieren die Bildungsaufsteiger mit Selbstaktivierung und Selbstökonomisierung auf ihre Erwerbsunsicherheiten und entwickeln psychologische Kontrollfiktionen. Aufgrund ihres hohen kulturellen Kapitals bei gleichzeitig oft geringeren realen Macht- und Geldressourcen neigen ihre Mitglieder dazu, eine Überinvestition in Bildung und Kultur zu tätigen und sich die darin verankerten, „legitimen“ Lebensformen, Diskurse und Subjektideale vollständig anzueignen. Das betrifft vor allem die Diskurse der Aktivierung (Gesundheitsvorsorge, Selbstverantwortlichkeit, unternehmerisches Selbst) und der psychologischen Selbsttherapeutisierung (Psychodiskurs). Die durch sie vermittelten Subjektideale laden jedoch zur therapeutisch-psychologischen statt zur politischen Problembehandlung ein. Um sich fit für den Arbeitsmarkt zu machen, besucht man Meditationen und Selbsterfahrungsgruppen, achtet auf gesunde Ernährung und hört auf seine „innere Stimme“. Ganz auf sich, seine kognitiven, psychologischen Fähigkeiten und „sozialen Kompetenzen“ gestellt, hat das Individuum sich seine Situation selbst zuzurechnen und ist für die Bewältigung der damit verbundenen persönlichen Krisen auch ganz allein verantwortlich.

Autorinnen-Info:

Cornelia Koppetsch ist Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt mit den Schwerpunkten Gegenwartsdiagnose, Bildung, Arbeit und Sozialstruktur sowie Familien- und Geschlechterforschung.